Hautnah
dass der kleine Ort deshalb so anders sei als die anderen in der Gegend, weil es hier einen Campus der Summer University of New York, SUNY , gebe, der ihm das bürgerlich-liberale Gepräge einer typischen Universitätsstadt verlieh und wohlhabende Studenten anlockte, die das Leben genießen wollten. Lara gefiel der Ort, und sie erlaubte sich einen kleinen Tagtraum, in dem sie und Stephen in dem Haus mit Teich des New York Times -Journalisten ein gelehrsames, anonymes Leben führten.
Hin und wieder sah Stephen – der im Schutz des schummrig beleuchteten Restaurants Hut und Brille abgelegt hatte – zu ihr hin, und jedes Mal spürte sie dabei, wie ihr Magen einen Satz machte, als würde in ihrem Innern ein kleiner Vogel aufflattern.
»Wo ist denn Ollys berüchtigter Appetit geblieben?«, fragte Lara und deutete mit einem Nicken auf den Pastateller ihres Sohnes, den dieser kaum angerührt hatte.
»Ich bin auf Diät«, erwiderte Olly und schaute sie aus blutunterlaufenen Augen an. »Los, Mum, lass mich mal von deinem Wein probieren.«
Unauffällig schob Lara ihm ihr Glas hin, damit er es austrinken konnte. Stephen bestellte ihr ein neues. Als sie fertig waren – sowohl Lara als auch Olly hatten mehr als die Hälfte des Essens auf ihren Tellern liegen lassen –, zahlte Stephen mit einer auf einen falschen Namen ausgestellten Kreditkarte. Dann traten sie hinaus auf die Straße, wo sich die Menschenmenge zwischenzeitlich vergrößert und verjüngt hatte. Es war wie die North Laine in Brighton an einem Freitagabend, fand Lara, nur dass das Gefühl, sich auf einer Insel inmitten rauer Natur zu befinden, die Atmosphäre noch intensiver machte. Sie kamen an einer Gruppe junger Frauen in hübschen Vintage-Kleidern und abgewetzten Lederjacken vorbei, die sich zum Ausgehen bereitmachten. Wäre Lara Studentin gewesen, dann hätte sie gerne den SUNY -Campus besucht. Ein solches Leben hätte ihr gefallen.
Sie fuhren etwa eine Meile bis zum Stadtrand, wo auf einer flachen Aue ein großes Zelt aufgebaut war. Die feuchte Wärme aus der Erde vermischte sich mit der kühler werdenden Abendluft und sorgte bei der buntgemischten Menschentraube, die sich vor dem Kartenhäuschen tummelte, für natürliche Erfrischung.
Nun wieder vollständig maskiert, zeigte Stephen ihre Eintrittskarten vor, und sie gingen ins Zelt, in einen großen Raum ohne Sitze. Auf einer Seite spielte eine Live-Band lauten Jazzrock, während Akrobaten und andere Zirkusleute sich unters Publikum mischten, kleine Szenen improvisierten, einander Brocken auf Englisch, Spanisch, Italienisch und Französisch zuriefen, Stangen hinaufkletterten und durch die nach Parfüm, Schweiß und Sägemehl riechende Luft zu Boden wirbelten. In der wogenden Menge wurde Lara gegen Stephen gedrückt. Der Wein hatte sie verwegen gemacht, und sie blieb dicht an seiner Seite stehen. Es war berauschend, fast unerträglich, und als sie zu Stephen aufblickte, sah sie, dass er die Augen geschlossen hatte.
»Jack«, rief sie und sah sich in der Menge um.
»Ist schon gut, er ist bei mir«, antwortete Olly. Er hatte Jack ein Stück entfernt auf einen Heuballen gesetzt, damit er besser sehen konnte, und hielt ihn fest.
Die letzten Zuschauer traten ein, und die Musik verstummte. In diesem Moment der Stille verschwanden die Planen, die zuvor wie Zeltwände ausgesehen hatten, und dahinter öffnete sich wie durch Zauberhand ein noch größerer Raum, in dem acht wunderschöne junge Punk-Artisten an Trapezen in der Luft hingen. Die Lichter erloschen, bis nur noch die Kuppel des Zelts beleuchtet war.
Die Band begann wieder zu spielen, eine pirschende Bassline auf der Snare Drum , zu der sich eine einzige, immer wiederkehrende Songzeile gesellte. Der Mann, der sie mit Reibeisenstimme sang, sah aus, als hätte er in seinem Leben schon alles gesehen.
»I. Will. Not. Be-Good.
I. Will. Not. Be-Good.«
Nacheinander setzten auch die übrigen Instrumente ein: E-Gitarre, Congas, Saxophon und Trompete. Als der Blechbläser schließlich den Gesang übertönte und das Zelt mit seiner anarchischen Energie füllte, flogen die Artisten in hohen Bögen johlend und trällernd an ihren Trapezen durch die Zeltkuppel.
Stephen nahm seinen Hut ab, schüttelte den Kopf in der warmen Luft und überließ sich der Anonymität, die das Dunkel und die Menschenmenge ihm gewährten.
»Hey, kann ich den mal aufsetzen?«, fragte Olly, der mit Jack auf dem Arm aus dem Nichts aufgetaucht war.
»Sicher.« Lächelnd reichte
Weitere Kostenlose Bücher