Hautnah
Lara legte Bella eine Hand an die Stirn.
»Wahrscheinlich bloß zu viel Sonne abgekriegt. Ich geh heute lieber früh ins Bett.«
»Na gut, wenn du meinst. Olly, kommst du denn mit?«
»Klar, warum nicht.«
»Du könntest deine Gitarre mitnehmen.«
»Cool.« Er lächelte. Er wirkte ein wenig zappelig, fand Lara. Ein wenig durch den Wind. Und abgehärmt sah er aus. Anscheinend streifte er ja den ganzen Tag mit seinen neuen Freunden durch die Wälder. Vielleicht verbrannte er mehr Kalorien, als selbst er zu sich nehmen konnte.
Sie nahm eine kalte Dusche, zog sich ihr letztes verbliebenes Kleid an und holte zwei Flaschen Wein aus dem Kühlschrank. Marcus und Selina nahmen Jack in die Mitte und gingen mit ihm über die Straße zur Tankstelle, um mehr Bier zu besorgen. Während Lara auf ihre Rückkehr wartete, fantasierte sie erneut, wie sie ins Auto sprang und zu Stephen fuhr. Doch noch ehe sie diese Vorstellung als lächerlich abtun konnte, erschien Olly an ihrer Seite. Auch er war frisch geduscht und trug seine Gitarre über der Schulter.
»Ich brauche echt ein paar neue Klamotten, Mum«, erklärte er.
»Morgen fahre ich in die Stadt.«
»Gut. Magst du einen Kaugummi?« Er bot ihr einen Streifen Orbit an.
»Nein danke. Und mach beim Kauen bitte den Mund zu. Ah, da sind sie ja.« Marcus und Selina überquerten den Garagenvorplatz. Marcus hatte sich das Bier unter den Arm geklemmt, und die beiden schwangen Jack zwischen sich an den Händen hin und her.
»Was für eine hübsche kleine Familie«, murmelte Lara und schloss die Haustür ab, damit Bella in Sicherheit war.
»Hä?«, machte Olly.
Der Abend hatte Ginas Garten in bläuliches Schwarz gehüllt, doch in der Mitte des Rasens, ein Stück vom Haus entfernt, waren im Schein eines prasselnden Lagerfeuers mehrere Gestalten auszumachen. Irgendjemand spielte einen Folksong auf der Gitarre, und ein anderer sang den Blues dazu. Glühwürmchen tanzten gefährliche Duette mit den aus dem Feuer aufstiebenden Funken.
Als sie näher kamen, stand Gina auf, um sie zu begrüßen, und stellte ihnen ihren schlaksigen britischen Ehemann Tom sowie diverse Nachbarn vor.
Das also sind die Leute aus dem Ort, dachte Lara. Die unsichtbaren Bewohner der Welten jenseits des Fliegendrahts. Erfreut stellte sie fest, dass sie ihr gefielen, wie sie mit ungekämmten Haaren und abgewetzten Jeans auf bunt zusammengewürfelten Stühlen rund ums Feuer saßen und Wein aus Marmeladengläsern tranken. Sie erinnerten Lara ein bisschen an die Freunde, mit denen sie früher, als die Zwillinge noch klein gewesen waren, oft zum Zelten gefahren war, wenn Marcus auswärts ein Engagement gehabt hatte.
Die Bewohner von Trout Island hießen die Waylands willkommen und machten ihnen Platz am Feuer. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich Olly zu den Gitarrenspielern gesellt und das Repertoire in eine etwas ausgefallenere, modernere Richtung gelenkt. Die Hitze des Tages war endgültig verflogen, und die feuchte Luft hatte sich unter dem mit Sternen übersäten Himmel zu einem schweren Tau verdichtet. Die kalte Dusche kribbelte noch in Laras Nervenenden, und sie schob sich näher an die Hitze der Flammen heran, hinein in die Geborgenheit der Menge.
»Ich hoffe, dass du nur wegen der Kälte so zitterst«, sagte Gina. »Und nicht wegen der Enthüllungen von heute Mittag.«
»Ich habe beschlossen, Marcus und den Kindern nichts davon zu erzählen«, flüsterte Lara. »Das bringt nur Kummer.«
Gina betrachtete sie von der Seite. »Also, von mir werden sie es bestimmt nicht erfahren, aber ich kann nicht garantieren, dass es nicht trotzdem rauskommt. Die Mundwerke hier in Trout Island sind ziemlich lose.«
»Darum kümmere ich mich, wenn es so weit ist«, entgegnete Lara.
»Wein?« Gina reichte Lara ein bis zum Rand gefülltes Marmeladenglas. »Hey, Mädels«, rief sie zu Gladys und Ethel hinüber. »Zeigt Jack, wie man S’Mores macht.«
Die zwei Mädchen nahmen ihren Gast mit zu einem Tisch, wo sie Marshmallows auf Stöcke spießten, ihm einen davon in die Hand drückten und ihm zeigten, wie er ihn über dem Feuer rösten musste, bevor sie zusammen mit zwei Grahamkeksen und einem Stück Hersheys-Schokolade ein Sandwich daraus machten.
»Wann musst du denn den Wagen abgeben?«, wollte Gina wissen.
»Morgen. Zurück nehme ich dann wohl den Bus.«
»Bus?« Gina lachte. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Bus in Trout Island gesehen. Ich fahre auch in die Stadt, dann können wir dich auf dem
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