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Hautnah

Hautnah

Titel: Hautnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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Stephen Olly seinen Hut, der ihn sich tief über die Augen zog und Stephens Körperhaltung nachahmte.
    »Du hast schon einen Freund gewonnen«, flüsterte Lara in Stephens Ohr.
    »Das macht mich sehr glücklich.« Er lächelte zu ihr herab.
    Über ihren Köpfen segelten die Akrobaten dahin, bis sie irgendwann springend, sich drehend, fliegend und taumelnd in der von Scheinwerfern erhellten Manege landeten, um den Beginn der eigentlichen Vorstellung einzuleiten. Sie nutzten jeden Winkel des Raums aus, rollten in riesigen Silberreifen über den Boden oder schnellten an elastischen Seilen durch die Kuppel. Die Zuschauer wurden von einer Seite des Zelts zur anderen dirigiert – in einem Moment drängten sie sich in der Mitte, während eine Frau mit Knieschonern und Glitzerkostüm sich in ein Seil wickelte, im nächsten bildeten sie einen Kreis um einen unglaublich muskulösen Mann, der laut auf Französisch brüllte, während er außerordentliche Dinge mit einer Eisenstange vollführte.
    Die ganze Zeit über spielte die Band ihre scheppernde Musik – Lieder, in denen es darum ging, Tabus zu brechen und Einsamkeit und Sehnsucht durch das Überschreiten von Grenzen zu besiegen.
    Nicht ein einziges Mal wurden Lara und Stephen durch die Bewegungen der Masse getrennt. Sie hielten sich im Hintergrund und genossen den heimlichen Körperkontakt, den die Dunkelheit ihnen ermöglichte. Olly und Jack hingegen waren immer mittendrin. Einen verwirrenden Augenblick lang dachte Lara, der Mann, der dicht hinter ihr stand, sich an ihren Rücken drückte und die Hände auf ihre Schultern gelegt hatte, könne unmöglich Stephen sein, weil der auf der anderen Seite der Manege in der vordersten Reihe stand und zu ihr herüberblickte. Doch als sie die mahlenden Kiefer sah, die einen Kaugummi bearbeiteten, erkannte sie, dass es Olly war, den das Licht und Stephens Hut einen Moment lang verwandelt hatten.
    Über ihnen verbog sich eine große Frau im taubengrauen Seidenkleid schwungvoll an einer statischen Trapezstange. Sie kletterte hinauf bis unter das Dach des Zelts. Dann fiel sie, stürzte geradewegs auf das Publikum zu. Die Menge erschrak und wich wie ein Mann zurück, hin- und hergerissen zwischen dem Impuls, sie aufzufangen, und dem Drang zu fliehen, um die eigene Haut zu retten. Lara verbarg das Gesicht an Stephens Arm. Doch der vermeintliche Absturz war Teil der Darbietung. Im letzten Moment wurde die Frau durch ihren Fuß gehalten, den sie in eins ihrer Seile gehakt hatte.
    »Komm heute Abend zu mir«, raunte Stephen in Laras Haar.
    Die Akrobatin schlang einen muskulösen Schenkel um ihre Trapezstange, ihr Seidenkleid breitete sich aus wie Flügel, und sie bog im Triumph über ihren Fall den Rücken durch.
    »Ich kann nicht.« Laras Mund streifte sein Ohr. »Ich will. Aber es geht nicht.«
    »Dann morgen. Komm tagsüber, wenn du kannst.«
    Lara nickte. Die Schönheit und Kühnheit dort oben trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie hatte die Mädchen in den Lederjacken und Vintage-Kleidern um ihr Leben beneidet, doch dieser Neid wog nichts gegen die schmerzhafte Sehnsucht, die Frau dort oben sein zu können. Sie würde weglaufen und sich dieser Gruppe unbekümmerter Schlangenkörper und Freigeister anschließen, die eine wundervoll verschworene, wilde Gemeinschaft bildeten, jede Woche in einer anderen Stadt, einem anderen Land, und ihre einzige Pflicht wäre es, mit ganzem Herzen und ganzer Seele ihre Kunst zu präsentieren.
    Sie weinte stumme Tränen um ihre verlorene Jugend.
    Das Trapez wurde in die Kuppel hinaufgezogen, und die Artistin glitt an einem langen Seil in die Manege hinab. Ein älterer Mann mit Hut und einem Regenmantel, der dem von Stephen nicht unähnlich sah – obwohl sein Oberkörper unter dem Mantel nackt war und er nichts weiter trug als enge Leggings –, dirigierte das Publikum in eine neue Formation, damit sie einem Paar zuschauen konnten, das in einem anderen Teil des Zelts eine Zweiernummer an einer Tuchschlinge vorführte. Ihre Glieder schlangen sich ineinander, über- und umeinander. Der Mann hielt die Frau an einem Arm in die Höhe, dann drehten sie sich um, so dass sie sein gesamtes Körpergewicht auf ihrem Bein balancierte. Er löste die Pose auf, und ihre Körper verschmolzen erneut miteinander. Lara spürte Stephens Hand, als sein Arm sich um ihre Taille legte.
    »Da bist du ja, Mutter«, sagte Olly ihr ins Ohr.
    Instinktiv rückte sie von Stephen ab. Sie hatte geglaubt, Olly sei noch auf der

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