Hautnah
Delle an.« Stephen deutete auf die Seite seines Wagens. »Ich habe immer noch keine Ahnung, was sich dieser Wahnsinnige dabei gedacht hat. Bei euch war seit gestern alles in Ordnung? Keine seltsamen Vorkommnisse?«
»Doch«, entgegnete Lara. »Ich meine nein, keine.«
»Gut«, sagte Stephen mit leicht gerunzelter Stirn. »Du würdest es mir doch sagen, wenn dich irgendwas beunruhigt, oder?«
»Natürlich«, beteuerte Lara. »Ich hole nur schnell den Kindersitz.« Sie eilte zurück in den Flur. Der Sitz stand noch da, wo sie ihn am Abend zuvor hingestellt hatte. Wie gerne hätte sie Stephen gesagt, was los war. Aber Bettys Worte hallten noch in ihrem Kopf wider.
Wenn Stephen erfährt, dass sie wieder da ist, wird ihn das umbringen.
Lara wollte nicht noch mehr Blut an ihren Händen kleben haben. Außerdem war sie fest entschlossen, dieser Frau auf eigene Faust das Handwerk zu legen, und zwar ein für alle Mal.
»Wo wollen wir denn Blaubeeren pflücken?«, erkundigte sie sich, als sie Trout Island hinter sich ließen.
»Bei mir«, antwortete er. »Auf meinem Land gibt es die besten Blaubeeren.« Er drehte den Song lauter, den er auf seinem iPhone über die Anlage des Wagens laufen ließ. Es war »There is a light that never goes out« von den Smiths. »Weißt du noch?«, fragte er.
Sie sah ihn an und nickte. Es war damals ihr Lied gewesen.
Sie fuhren über den Berg, während Stephen und Lara davon sangen, wie sie von Doppeldeckerbussen überrollt und Seite an Seite sterben würden.
»Das Haus ist wunderschön«, meinte sie, als sie am strahlend weißen Farmhaus mit der spektakulären Aussicht vorbeikamen.
»Die Lage ist zu exponiert für mich«, erwiderte Stephen. »Ich muss im Verborgenen bleiben.«
Sie tauchten wieder in den Wald ein, bis sie an die Zufahrt zu seinem Grundstück kamen. Stephen langte ins Fach in der Fahrertür und nahm ein kleines Gerät mit einem Knopf heraus. Das Tor öffnete sich summend, ließ sie passieren und schloss sich dann wieder hinter ihnen.
»Es ist so schön hier«, seufzte Lara, als sie auf der Lichtung vor seinem Haus anhielten.
»Ja.« Er sah sie an.
Lara stieg aus, um Jack aus seinem Sitz zu helfen. »Schlangen!«, rief der und zappelte, bis sie ihn herunterließ, woraufhin er sofort zielstrebig auf den Holzstapel zuging. Als Jack nicht hinschaute, legte Stephen den Arm um Lara und küsste sie aufs Haar.
»Ich bin so froh, dass du hier bist«, sagte er.
»Ich bin auch froh, dass ich hier bin. Ich freue mich so, dass ich dich wiedergefunden habe. Ich dachte schon –«
»Stephen! Du musst kommen und mit mir nach Schlangen suchen!« Jack kam um die Ecke gerannt, und sie rückten voneinander ab.
»Ich gehe die Ausrüstung fürs Blaubeerpflücken holen«, erklärte Stephen. »Deine Mum kann dir helfen.«
»Na gut. Aber du brauchst einen Stock, Mummy«, sagte Jack.
Sie stocherten gerade im Holzstoß herum, als Lara wenig später Stephens Hand auf der Schulter spürte. »Bitte sehr.« Er reichte ihr und Jack jeweils einen kleinen Weidenkorb.
»Du musst mich tragen!«, verlangte Jack von Stephen und streckte die Arme aus.
Sie machten sich auf den Weg und folgten dem Pfad hinter dem Haus in den Wald hinein.
»Wir könnten auch den Wagen nehmen, aber es ist nicht weit, und es ist so ein schöner Tag«, sagte Stephen.
»Mir ist es recht«, antwortete Lara, während sie durch den sonnengesprenkelten Wald einen steilen Hang erklommen und sich immer weiter vom Haus entfernten. Unterwegs erzählte ihnen Stephen, dass sich an der Stelle einst eine Siedlung befunden habe und dass die dichtbewaldeten Hügel hundert Jahre zuvor noch kahl gewesen seien, weil dort Kleinbauern Landwirtschaft betrieben und der kargen, steinigen Erde mühsam ihren Lebensunterhalt abgerungen hätten. Der Niedergang der zehn Meilen entfernten Eisenbahnstrecke und die Schwierigkeiten, vor die der Boden und die harten Winter die Farmer stellten, hatten die Menschen jedoch dazu gezwungen, die Gegend zu verlassen. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatten Bäume und Unterholz wieder die Herrschaft übernommen. Lara dachte daran, wie viel Arbeit es machte, ihren winzigen Garten in Brighton von Unkraut freizuhalten. Wie schnell erst in diesem heißen, feuchten Klima die heimischen Pflanzen wachsen mussten. Sie konnte den Blattranken fast dabei zusehen, wie sie Zentimeter um Zentimeter über den felsigen Boden krochen und den Waldweg von den Menschen zurückeroberten.
Mit jedem Schritt spürte Lara, wie sie
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