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Hautnah

Hautnah

Titel: Hautnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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sich ein Stück mehr von den Ereignissen der vergangenen Tage erholte. Zu dritt gingen sie der Zukunft entgegen, und während sie vorwärtsschritten, zerrissen die Fesseln der Vergangenheit und Pflicht.
    »Wenn man die Augen offenhält, kann man überall noch Überreste der Siedlung entdecken«, erzählte Stephen. »Da.« Er zeigte zu einer von Efeu überwucherten Mauer, die im rechten Winkel zum Weg am Hang entlangführte. »Das ist eine alte Grenzmauer. Wenn man ihr bis über den Hügel folgt, kommt man zu einem verfallenen Haus. Ich kann es euch zeigen, wenn wir mit dem Blaubeerpflücken fertig sind.«
    »Klingt gut, oder, Jack?«, fragte Lara. Der kleine Junge nickte. Er hatte den Kopf in die Höhe gereckt und die Arme fest um den Hals des großen Mannes geschlungen. Stephen hielt ihn sicher mit einem Arm, während er gleichzeitig mit Hilfe eines Stocks, den er vom Boden aufgehoben hatte, ein zugewachsenes Stück Pfad von den langen, blättrigen Stielen einer Art Weidenröschen befreite. Wie er so mit Kind und Stock durch den Wald ging, sah Stephen genauso vollständig aus wie auf dem Foto von Dover’s Hill in seiner Nachttischschublade.
    »Da wären wir!«, verkündete er, als sie den höchsten Punkt erreicht hatten. Der dunkelgrüne Schein jenseits der Bäume verblasste erst zu einem hellen Limettengrün, dann tat sich das Blau des Himmels auf. Noch ein Schritt, und sie standen auf einer mit Gras bewachsenen Kuppe, auf der Gruppen von Sträuchern wuchsen, die größer waren als Lara und zwischen denen sich schmale Trampelpfade hindurchschlängelten. Sie hingen voller blauvioletter Beeren, die förmlich darum bettelten, gepflückt zu werden.
    Jack kletterte von Stephens Arm herunter und rannte auf die Sträucher zu.
    »Seht euch nur mal die Aussicht an«, sagte Lara, kletterte auf eine mit Grasbüscheln bewachsene Erhebung und drehte sich im Kreis. Dreihundertsechzig Grad bewaldete Hügel, die ineinander übergingen und sich in der blau schimmernden Ferne verloren. Hätte es die fünf Hochspannungsleitungen nicht gegeben, die auf ihren gigantischen Masten das Land durchschnitten, wäre weit und breit kein Zeichen menschlicher Zivilisation zu sehen gewesen. Zum ersten Mal seit langem hatte Lara nicht das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen.
    »Nicht schlecht, oder?« Stephen legte ihr eine Hand auf die Schulter und zeigte in die Ferne. »Von da unten sind wir gekommen.«
    Lara schloss die Augen und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich –«
    »Schh«, mahnte er und legte ihr einen Finger an die Lippen. »Komm, Jacko, lass uns die Körbe hier vollmachen, dann kann deine Mum dir Pfannkuchen backen.« Er nahm Jack an die Hand und führte ihn auf einem der Trampelpfade tief ins Blaubeerdickicht hinein.
    Wie im Traum begann Lara, Beeren von einem Strauch zu pflücken und in ihren Korb zu legen. Hin und wieder schob sie sich versonnen eine Beere in den Mund, zerdrückte sie mit der Zunge und schmeckte ihre mehlig-herbe Süße. Das tiefe Summen umherfliegender Insekten vermischte sich mit dem Zirpen der Grillen, und sie betete, für immer bleiben zu dürfen, hier inmitten der Blaubeersträucher.
    »Mummy, schau mal!« Mit dem Korb voller Beeren stolperte Jack hinter einem Strauch hervor und in ihren Tagtraum hinein.
    »Das ging aber schnell«, sagte sie und hockte sich neben ihn, um seine Ernte zu begutachten.
    »Er hatte ein klein wenig Hilfe.« Lara hob den Kopf und sah Stephen auf sie herabblicken. Sie stand auf und durchbrach so die sonderbare Innigkeit des Augenblicks.
    »Ich würde sagen, das reicht fürs Frühstück morgen und vielleicht noch für einen Kuchen«, stellte Stephen fest. »Obwohl ich das Gefühl habe, dass bei deiner Mummy mehr Beeren in den Mund als in den Korb gewandert sind.« Er leckte sich über den Daumen und wischte ihr einen Fleck Blaubeersaft von der Lippe.
    »Mummy ist ein Frechdachs«, sagte Jack kichernd. »Kann ich –?«
    Ein Knacken im Gebüsch hinter ihnen übertönte den Rest und ließ Lara und Stephen herumfahren. Gut dreißig Meter von ihnen entfernt stand ein drei Meter großer Bär auf den Hinterbeinen und starrte sie aus vor Wut blitzenden Augen an. Er schien über das unerwartete Aufeinandertreffen ebenso erstaunt wie sie.
    Jack klammerte sich an Laras Beine.
    »Macht keine plötzlichen Bewegungen«, flüsterte Stephen und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Stellt euch hinter mich, und egal, was passiert, seht ihm nicht in die Augen.«
    »Keine Angst, Jacko.

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