Hautnah
Alles wird gut.« Lara schob Jack hinter sich und bemühte sich, ihn stillzuhalten.
Stephens Warnung folgend, blickte sie zwar in die Richtung des Bären, sah ihn aber nicht direkt an, sondern beobachtete ihn lediglich aus dem Augenwinkel. Trotzdem war nicht zu verkennen, dass er sie hungrig fixierte. Die Insekten waren verstummt, als hätten sie die Spannung zwischen Menschen und Tier gespürt. Obwohl der Bär noch weit entfernt war, wehte sein fruchtiger Geruch in der heißen Nachmittagsluft zu ihnen herüber. Eine scheinbare Ewigkeit lang geschah nichts.
»Hey, Bär!« Stephen streckte ihm die Hand hin, Handfläche nach unten. »Ich werde jetzt mit dem Bär reden, Lara«, sagte er leise und langsam. »Bleib aufrecht stehen und mach dich so groß wie möglich. Denk dran, schau ihm nicht in die Augen, aber sieh auch nicht weg.« Er bewegte langsam die Arme auf und ab und streckte sich. »Der Kerl da«, erklärte er und meinte damit den Bären, »denkt wahrscheinlich, dass wir uns auf seinem privaten Blaubeerfeld befinden. Wir werden ihm zeigen, dass wir ihm nichts Böses wollen, und ihm als Entschuldigung die Beeren dalassen, die wir gepflückt haben.«
»Nein!«, rief Jack. Das plötzliche Geräusch brachte Bewegung in den Bären. Er begann, seinen massigen, pelzigen Körper hin und her zu wiegen, schüttelte den Kopf und brummte.
»Still, Jack«, mahnte Lara und hielt ihn fest gegen ihre Beine gedrückt. »Wir können neue Beeren pflücken.«
»Hier, Bär, nimm die Beeren.« Stephen schüttete seinen Korb vor sich im Gras aus. »Und jetzt ziehen wir uns langsam zurück.« Er bewegte weiterhin die Arme auf und ab, während er vorsichtig ein paar Schritte rückwärtsging und Lara und Jack auf den Pfad zum Haus lotste. Sie waren etwa zwanzig Meter weit gekommen, als der Bär einen Schritt auf sie zumachte.
Lara verbarg das Gesicht an Stephens Rücken und hielt Jack dicht an sich gepresst. Der Bär begann, auf sie zuzutrotten, und wurde immer schneller. Rasch riss Stephen die Arme hoch, stellte sich breitbeinig hin und stieß ein dermaßen lautes Brüllen aus, dass die Bäume im näheren Umkreis davon zu erzittern schienen. Zitternd schmiegte sich Jack an Laras Beine.
Lara fiel das Smiths-Lied aus dem Auto wieder ein. To die by your side …
Stephens Gebrüll ließ den Bären innehalten. Er stellte sich auf die Hinterbeine, während Stephen ihm mit hoch erhobenen Armen gegenüberstand, um so groß wie möglich zu wirken. Die Zeit schien stillzustehen, während Mann und Bär sich gegenseitig musterten. Endlich ließ sich der Bär auf die Vordertatzen fallen. Er begann, die ausgeschütteten Blaubeeren zu beschnüffeln, als wären die drei Menschen Luft.
»Er hat seinen Meister gefunden.« Ein kleines Lächeln umspielte Stephens Lippen. »Er hat verdammt noch mal seinen Meister gefunden.«
Sie zogen sich rückwärts in den Wald zurück. Erst als sie außer Sichtweite des Bären waren, wagten sie es, sich umzudrehen. Stephen nahm Jack auf die Arme.
»Gut gemacht, mein tapferer Kleiner«, lobte er. »Und jetzt müssen wir so viel Lärm machen, wie wir können, für den Fall, dass noch andere Bären in der Nähe sind. Damit sie uns kommen hören. Aber nicht rennen, ganz egal, was passiert.«
Unter lautem Rufen, Johlen und Händeklatschen machten sie sich auf den Weg hinunter zum Haus. Als sie bei der Tür zur hinteren Veranda ankamen, war Lara heiser. Doch zu dem Adrenalin, das ihr vor Angst ins Blut geschossen war, gesellte sich nun das stärkere Hochgefühl, überlebt zu haben.
Stephen schloss die Tür auf und ließ sie eintreten.
»Ich dachte schon, wir wären erledigt.« Er drehte sich zu ihr um und grinste sie an. Sie warf ihm und Jack die Arme um den Hals, und einen Augenblick lang standen sie einfach nur so da und hielten einander fest. Nach einer Weile fing Jack an zu zappeln und schlängelte sich zwischen ihnen hervor.
»Schlangen!«, sagte er.
Die einstündige Suche auf der Wiese hinter dem Haus lieferte reiche Ausbeute: eine einen Meter zwanzig lange schwarze Rattenschlange, von der Stephen behauptete, dass sie so weit nördlich äußerst selten anzutreffen sei. Jack klatschte vor Freude in die Hände, als das Tier den Stock zu würgen versuchte, mit dem Stephen es aufgehoben hatte.
Viel zu früh wurde es Zeit für Lara, wie ein Aschenputtel in ihr schreckliches Haus in Trout Island zurückzukehren, wo sie für alle kochen und putzen musste.
Auf der Rückfahrt nutzte Lara den Motorenlärm des
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