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Hautnah

Hautnah

Titel: Hautnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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Trockenmauer markierte die Grundstücksgrenze. Diese Mauer war es auch, die die Vegetation auf Abstand gehalten hatte, wenngleich aus einer der Fensteröffnungen ein Ahornschössling emporwuchs.
    »Brr.« Lara schauderte.
    »Schau dich mal drinnen um.« Stephen leuchtete mit der Taschenlampe in den Türeingang.
    Als Lara ins Innere des Hauses spähte, sah sie einen fleckigen Schlafsack, eine alte Feuerstelle mit Überresten eines vor kurzem abgebrannten Feuers, einen Haufen leerer Lebensmittelverpackungen und Einwickelpapiere sowie einen großen Plastikkanister, voll mit Trinkwasser. Auf dem Fußboden waren, aus Zweigen und Blättern geformt und von einem Herz aus kleinen Steinen umschlossen, die Buchstaben ES + SM zu lesen. Doch was Lara endgültig die Nackenhaare zu Berge stehen ließ, waren die aus Vogelschädeln, Knochenresten und Wurzelfasern gebastelten Puppen. Die größere der beiden hatte einen Stoffstreifen von Stephens Hemd um den Bauch gewickelt – das Hemd, das aus dem Waschsalon gestohlen worden war. Die kleinere trug einen Fetzen von Laras grünem Top. Lara schaute zu Stephen, der hinter ihr ins Haus getreten war.
    »Ich habe es gewaschen und zum Trocknen nach draußen gehängt, am Tag, nachdem ihr zum ersten Mal bei mir wart«, erklärte er, weil er die Frage in ihrem Blick gelesen hatte. »Dann war es auf einmal verschwunden. Erst dachte ich, der Bär hätte es sich geschnappt. Ich hatte den Weinfleck sogar rausbekommen.«
    Erneut warf Lara einen Blick auf die Puppen. Jeder steckten sechs große Dornen in der Brust.
    »Stacheln der Igelkraftwurz. Die wächst hier in meinem Wald überall«, klärte Stephen sie auf.
    »Was meinst du, wie lange haust sie hier schon?«
    »Ich bin vor ungefähr zehn Tagen auf dem Weg zum Schwimmen hier vorbeigekommen, da war alles noch verlassen. Das hier ist ganz neu. Dieses verdammte Miststück.« Einen Augenblick lang schien er die Kontrolle über sich zu verlieren. Er trat mit dem Fuß nach dem Steinherz und den Vogelschädelpüppchen, nach dem Schlafsack und dem Wasserkanister.
    »Beruhige dich.« Lara legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du vernichtest die Beweise.«
    Er sah sie mit loderndem Blick an.
    »Sie will uns fertigmachen.« Er riss sich von Lara los und stürmte nach draußen in den düsteren Wald.
    »Komm raus, Sanders!«, brüllte er und legte das Gewehr an. »Komm raus und zeig dich!«
    Die einzige Antwort war Stille.
    »Ich will jetzt zum Haus zurück«, bat Lara und legte ihm erneut besänftigend die Hand auf den Arm. Es wurde rasch dunkler – die wenigen Fetzen Himmel, die zwischen den Bäumen durchschimmerten, färbten sich bereits von Rosa zu Grau. Selbst mit Stephen an ihrer Seite verspürte sie nicht das Bedürfnis, draußen im Wald zu sein, wenn der letzte Rest Tageslicht verschwand und sie im Stockdunkeln zurückblieben.
    »Ja«, sagte er, und die Art und Weise, wie er sich umschaute, verriet ihr, dass auch er sich nach dem Schutz seiner vier Wände sehnte.
    Schweigend bahnten sie sich ihren Weg zurück durch Dornengestrüpp und Unkraut, das seit ihrem Aufbruch hinter ihnen in die Höhe geschossen zu sein schien.
    Stephen hatte sein Gewehr im Anschlag wie ein Soldat, der durch den Dschungel pirscht. Genau wie in seiner Rolle in dem Vietnam-Film, für die er den Oscar bekommen hatte. Lara leuchtete ihnen mit der Taschenlampe. Die Zeit drängte. Bald musste sie sich auf den Weg nach Trout Island machen. Sie wollte nicht zurück. Sie wollte bei Stephen bleiben, und sie wollte ihn nicht allein lassen, solange diese Frau irgendwo zwischen den Bäumen herumschlich und ihn beobachtete.
    Außerdem sah sie sich nicht in der Lage, allein in ihrem unzuverlässigen Auto den dunklen Berg hinunterzufahren, zumal da immer noch ihre alte Angst war, sie könnte urplötzlich im Rückspiegel ein Paar böse Augen aufblitzen sehen. Daheim in England, auf den freundlichen grünen Straßen der Home Counties, war es für sie schon schlimm genug, nachts unterwegs zu sein. Aber inmitten einer Natur, die als Kulisse für Tausende von Leinwandalpträumen gedient hatte, und im Wissen, dass eine echte, lebendige Geisteskranke hier draußen ihr Unwesen trieb, würde sie es niemals schaffen. Sie würde unterwegs vor lauter Angst einen Nervenzusammenbruch erleiden.
    Deshalb sagte sie, als sie seine Veranda erreicht hatten und er sie an sich zog und bat, noch ein wenig länger zu bleiben, sofort ja.
    Er schloss die Tür auf, und sie gingen hinein. Er machte kein Licht.

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