Havanna für zwei
nach Hause brachte, mit dem er die Familie allein unterhalten konnte. Sie fragte sich, ob sie nicht ganz richtig tickte, denn insgeheim träumte sie oft von der Zeit, in der sie in Jack Duggan verliebt gewesen war. Das war die Fantasie, in der sie am liebsten Zuflucht suchte.
Doch jetzt, wo sie ihn leibhaftig gesehen hatte, fühlte sie sich wie betäubt und innerlich zerrissen. Er war genau, wie sie ihn sich so viele Jahre später vorgestellt hatte. Eigentlich sah er als Erwachsener sogar noch besser aus als damals.
Seit sie Jacks Nummer gewählt hatte, war eine Woche vergangen, und sie hatte das Gefühl, dass es umso schwerer würde, je länger sie noch wartete. Doch was sollte sie ihm sagen? Was hätte sie ihm gesagt, wenn er neulich Abend rangegangen wäre? Es überwältigte sie – wurde wieder zur Obsession. Im ersten Jahr ihrer Ehe war sie immer die Griffith Avenue entlanggefahren, wo er wohnte, nur für den Fall, dass er zufällig aus dem Haus käme. Natürlich passierte das nie, weil er inzwischen studierte und sich auf der Südseite der Stadt ein Zimmer gesucht hatte, und trotzdem nahm sie in der vagen Hoffnung, dass er vielleicht seine Mutter besuchte, regelmäßig diesen Umweg. Donal fiel das nicht mal auf, und zusammen mit der Erleichterung darüber kam die Frustration, dass der Mann, den sie geheiratet hatte, ihre geheimen Gedanken und Gefühle überhaupt nicht kannte. Wie konnte sie den Rest ihres Lebens mit einem Mann verbringen, der nur mit einer Hälfte von ihr glücklich war, während die andere Hälfte bis über beide Ohren in Jack verliebt war?
Doch mit der Zeit hatte die Obsession nachgelassen. Ihr Leben mit Donal und den Kindern und ihre Arbeit als Lehrerin hatten sie voll und ganz in Anspruch genommen, sodass ihre Zeit mit Jack Duggan ihr nur noch vorkam wie ein ferner, wunderbarer Traum.
Und plötzlich, vierzehn Jahre später, sah sie sein Gesicht im Spülwasser, wenn sie nach dem Abendessen die Pfannen abwusch. Sie sah sein Gesicht, wenn sie die Rinde von den Sandwiches für die Kinder abschnitt. Wenn sie die Augen schloss, roch sie sogar seine Haut. Sein Geruch war das Einzige, was sich überhaupt nicht verändert hatte. Seine Klamotten waren modischer, seine Haut rauer und sein Haar mehrere Nuancen dunkler, doch sein Geruch war eindeutig noch derselbe. Frustriert knallte sie die Waschmaschinentür zu und brach in Tränen aus. Als ihr die Nase lief, riss sie sich ein großes Stück von der Küchenrolle ab und beschloss, dass es an der Zeit war, etwas zu unternehmen.
Wie automatisch nahm sie die Kaffeedose von ihrem Platz im Regal und maß zwei Teelöffel der kräftigen kolumbianischen Röstung aus fairem Handel ab. Sie musste sich zusammenreißen. Schließlich wurde sie bald vierzig und wollte nicht das Gefühl haben, dass das Leben an ihr vorbeizog. Die Vorstellung, zurück in den Schuldienst zu gehen, flößte ihr Angst ein, und der Gedanke daran, zu Hause zu bleiben, bis ihre Kinder aufs College gingen, ängstigte sie noch mehr. Was war bloß aus der unbekümmerten, lebenslustigen Louise geworden, die mit Mitte zwanzig noch so leidenschaftlich und innig geliebt hatte? Wie hatte sie sich in diese durchgeknallte, zwanghafte Mama von drei Kindern verwandelt, die keine eigene Identität mehr hatte? Sie nahm ihren Becher, goss kochendes Wasser auf das Kaffeegranulat und wärmte ihre Hände an dem Becher. Dann lief sie ins Wohnzimmer. Ihr Klavier stand verlassen und vernachlässigt in der Ecke, und zum ersten Mal seit Jahren verspürte sie das überwältigende Bedürfnis, ein paar Akkorde zu spielen.
Als sie noch als Lehrerin gearbeitet hatte, war kein Tag vergangen, an dem sie nicht wenigstens einmal gespielt hatte. Zu bestimmten Zeiten im Jahr, zum Beispiel im Vorfeld der Schulweihnachtsfeier oder des »Battle of the Bands«-Wettbewerbs, hatte sie sogar mehrere Stunden am Tag am Klavier gesessen.
Während des alljährlichen »Battle of the Bands«-Contests hatte Jack Duggan dann auch seinen ersten Annäherungsversuch gestartet. Der Altersunterschied zwischen ihnen war nicht sehr groß (sie war erst vierundzwanzig und kam frisch von der Uni, und er war achtzehn und im Grunde schon erwachsen), doch was ihren Status betraf, trennten sie Welten.
Sie erinnerte sich in allen Einzelheiten an den Augenblick. Sie waren allein im Klassenraum, nachdem sie die Musikinstrumente weggeräumt hatten. Nach Sonnenuntergang herrschte in der Schule eine ganz andere Atmosphäre, und obwohl es Frühsommer
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