Havelgeister (German Edition)
»Sie heißt Frieda Boll.«
Die Türklinke schon in der Hand, drehte Manzetti sich noch einmal um. Kevins Mutter stand vor dem Küchentisch, eine Hand lag auf ihrem Herzen. »Ist ihm etwas passiert?«, fragte sie.
Manzetti schüttelte den Kopf. »Bis jetzt wird er nur gesucht«, sagte er und glaubte den Ansatz eines Lächelns in ihren Mundwinkeln zu erkennen.
***
Im Auto lehnte Manzetti sein Haupt gegen die Kopfstütze. Wie viel Elend gab es doch auf dieser Welt. Und um dessen gewahr zu werden, musste man nicht erst nach Afrika reisen. Oft reichten dafür bereits zwei Stationen mit der Straßenbahn.
Er startete den Motor und bog auf die Upstallstraße ein. Wenige Minuten später öffnete sich vor ihm eine komplett andere Welt. Frieda Bolls Haus, errichtet im Stil alter Fachwerkhäuser, lag am Rand der Siedlung. Vorsichtig sah Manzetti sich um. Den Hund der Malerin hatte er noch nicht vergessen, dafür war der zu groß gewesen. Also versuchte er irgendetwas von ihm zu entdecken. Erkannte Gefahr ist schließlich halbe Gefahr, aber es zeigten sich weder aufgestellte Ohren noch eine wedelnde Schwanzspitze. Angestrengt grübelte er nach dem Namen des Untiers. Ein römischer Staatsmann. Sie hatte ihn nach einem alten römischen Politiker benannt. Aber der Name fiel ihm partout nicht ein. Was blieb ihm weiter übrig? Mit angespannten Sinnen drückte er auf die Klingel.
»Einen Moment«, hallte es durch die geschlossene Tür. »Cato sitz!« Dann erschien Frieda Boll in der Tür.
Sie musste geradewegs aus ihrem Atelier gekommen sein. Eingehüllt in einen mit Farbspritzern übersäten Blaumann und schwere Arbeitsschuhe tragend, die eher an einen Schmied als an eine Malerin denken ließen, sah sie ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Bildeten sich da gerade neue Gewitterfronten aus?
»Sie schon wieder? Was wollen Sie denn noch?«
Manzettis Blick wechselte zu Cato, der neben Frauchen Position bezogen hatte und vorerst nur die Zunge heraushängen ließ. »Frau Boll, dürfte ich Ihnen zuerst erklären, wer ich bin? Das macht unter Umständen die folgende Unterhaltung etwas leichter.«
»Woher nehmen Sie denn die Gewissheit, dass es eine Unterhaltung geben wird?«
Manzetti zog nur die Schultern hoch. Was sollte er auch weiter tun?
Frieda Boll tätschelte Cato die Flanke und forderte Manzetti dann mit einem kurzen Nicken auf, seinen Vortrag zu beginnen.
»Ich heiße Andrea Manzetti«, sagte er. »Und ich bin Kriminalhauptkommissar.« Er machte eine Pause, um seinen Dienstausweis zu zücken und die erste Reaktion der Malerin abzuwarten. Da die aber ausblieb, redete er einfach weiter. »In der letzten Nacht wurde Nepomuk Böttger ermordet aufgefunden. Alles deutet auf ein grausames Verbrechen hin, bei dem auch Ihr Enkel eine gewisse Rolle spielen könnte. Mehr kann ich Ihnen an dieser Stelle dazu noch nicht sagen, aber in diesem Zusammenhang suchen wir nach Kevin. Er wurde vor Kurzem als vermisst gemeldet, und seine Mutter verwies mich an Sie.«
Frieda Boll nickte. Offenbar hatte sich der Tod von Nepomuk in der Siedlung bereits herumgesprochen. Sie zog die Tür auf und schob Cato zur Seite. »Kommen Sie«, forderte sie Manzetti auf. »Das müssen wir nicht hier draußen bereden.«
Schon der Flur führte jedem Besucher vor Augen, dass er das Haus einer Künstlerin betrat. An den Wänden hingen kostbare Stiche, den Motiven nach zu urteilen aus dem 17. Jahrhundert. Daneben eine Reihe handsignierter Lithografien, von denen zumindest zwei die Handschrift des großen Henri Matisse trugen. In der Summe war hier ein kleines Vermögen versammelt.
Im nächsten Raum setzte sich die Vorführung rarer Kostbarkeiten fort. Über Frieda Bolls schmale Schultern hinweg schaute Manzetti auf Bücherregale, die bis unter die Decke gefüllt waren. In seinem Herzen machte sich wohlige Wärme breit. Mindestens viertausend Exemplare, die meisten davon würde man in heutigen Buchhandlungen vergebens suchen. Vielmehr mochte man glauben, jemand habe hier einen Teil der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek ausgelagert. Am liebsten hätte Manzetti eines der ledergebundenen Werke herausgezogen und daran gerochen. Direkt neben ihm bot sich Cervantes’ »Don Quijote« an.
»Bevorzugen Sie eine gewisse Ordnung?«, interessierte er sich und nickte in Richtung Regalwand.
»Nein. Vielleicht ist ein Teil nach dem Alphabet sortiert, ich weiß es nicht genau. Sie gehören fast alle meinem Vater, und ich war froh, als sie halbwegs verstaut waren. Jetzt
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