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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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nicht so kleinlich. Es ist Kunst, jedenfalls das, was die beiden betrifft, und da sollte man auch mal ein Auge zudrücken können. Jedenfalls gewinnen die meisten Fassaden in der Stadt, wenn sich ein Künstler an ihnen austobt.« Sie zeigte mit der freien Hand auf eine der Staffeleien. »Sehen Sie das Bild dort drüben?«
    Manzetti drehte sich um und erkannte es sofort. »Der Schrei.«
    »Richtig«, sagte sie. »Fast jedenfalls. Aber sehen Sie etwas genauer hin und vergleichen Sie es mit dem Original von Munch. Wen erkennen Sie, wenn Sie sich das Gesicht anschauen.«
    Manzetti brauchte nicht genauer hinzuschauen. Er hatte das Bild ja schon einmal gesehen, nur viel größer und auf dem Dach des Doms.
    »Es ist gelungen, aber …«
    »Nein, es ist Kunst. Und das Antlitz Ihres Polizeichefs im Schrei hoch über der Stadt … das hat doch was, oder?«
    Manzetti konnte sich einer stillen Zustimmung nicht erwehren.
    »Dann stammt das Werk auf dem Dom wirklich von Nepomuk.«
    Frieda Boll lehnte sich zur Seite und drückte den Kloben in einen Aschenbecher. »Ich nehme es an, weiß es aber nicht genau. Sie haben mir nie vorher erzählt, was sie machen.«
    »Aber Sie haben doch das Bild hier in Ihrem Atelier.« Manzetti zeigte auf die Staffelei.
    »Ich habe jede Menge Bilder der beiden hier. Welches sie davon aber ausgewählt haben, um es an die Wände zu sprühen, haben sie mir nicht verraten. Immer erst morgens, nachdem sie wiedergekommen waren, lag ein Zettel auf meinem Schreibtisch. Die darauf notierte Adresse gab den Ort des neuen Bildes an. Ich bin dann jedes Mal hingefahren und habe es aus Sicht der Künstlerin bewertet.«
    »Auch gestern?«
    »Nein. Das brauchte ich ja nicht. Jeder Fernseh- und Radiosender hat es mir doch ins Wohnzimmer übertragen … Und es ist richtig gut.« Ihre Augen gerieten für einen kurzen Moment ins Schwärmen.
    »Dann hat er die Laken hier besprüht?«
    Sie schob die Augenbrauen nach oben. »Wie kommen Sie jetzt da drauf?«
    »Na, weil seine Vorlage noch auf der Staffelei steht. Oder haben die Jungs sie nach ihrem Graffitiakt hier abgestellt?«
    »Nein. Aber die Fotokopie fehlt. Nepomuk nahm nie seine Originale mit raus. Immer nur die Kopien.« Ihr Ton wurde galliger. »Er wollte einfach nicht, dass Menschen Ihres Schlages in den Besitz der Bilder kommen.« Dann lächelte sie wieder, jedoch dieses Mal ohne die Augen daran zu beteiligen. »Na ja, und wenn ich es mir richtig überlege, hatte der Junge damit verdammt Recht.«
    »Und warum haben Sie Kevin vermisst gemeldet? Seine Mutter sagte mir, dass er öfter nicht nach Hause kam.«
    »Seine Mutter, seine Mutter. Diese Bezeichnung hat diese Frau nicht verdient. Der Junge war immer bei mir. Nach Hohenstücken ging er, wenn er sich mit den anderen Jungs treffen wollte. Und sie besuchte er nur, wenn er wusste, dass ihr Stecher nicht zu Hause war. Ansonsten war er hier, von wo er auch in die Schule ging.« Sie erhob den Zeigefinger. »Übrigens regelmäßig.«
    »Und was war gestern anders?«
    »Ich wusste, dass der Schrei vom Dom das Werk der Jungs war. Allerdings fehlte am Morgen der Zettel auf meinem Schreibtisch. Das ist vorher noch nie vorgekommen. Und als Kevin am Abend noch nicht zu Hause war, und auch Nepomuk nicht, habe ich geahnt, dass etwas Schlimmes passiert sein muss.«
    Das klang einleuchtend, half Manzetti aber im Moment nicht weiter. Er musste Kevin finden, bevor der das Schicksal von Nepomuk Böttger teilen würde. Er dachte zwei Sekunden lang nach.
    »Eine letzte Frage, Frau Boll.«
    »Bitte.«
    »Hat Kevin so etwas wie einen Lieblingsplatz?«
    »Nein«, sagte sie ohne lange zu überlegen. Dann aber verzog sich ihr Gesicht. »Er war ein ausgesprochener Stubenhocker. Raus ging er eigentlich nur mit Nepomuk.« Noch mitten im Satz erhob sie sich und ergriff Manzettis Arm. »Gehen Sie jetzt bitte, es gibt nichts mehr zu besprechen. Ich habe zu tun und um meinen Vater muss ich mich auch noch kümmern.«
    An der Haustür gab sie ihm zwar die Hand, war aber ansonsten meilenweit von jedweder Freundlichkeit entfernt. Manzetti blieb dennoch stehen, mit ihren körperlichen Kräften konnte sie es nicht verhindern. »Wo würden Sie Kevin suchen?«, fragte er.
    Frieda Boll schien ihre Fassung wiedergefunden zu haben und sah Manzetti mit traurigen Augen an. »Ich suche ihn seit über zwei Tagen. Mir fällt kein weiterer Ort ein, Herr Manzetti.«

13
    Henry Wegmann hatte sich am Neustädtischen Markt absetzen lassen. Karin hatte kurz gewunken

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