Havelgeister (German Edition)
beschwert er sich ständig, dass keines seiner Lieblingsbücher an der richtigen Stelle steht und er sie nicht mehr finden kann. Er unterstellt mir sogar, dass ich sie ihm absichtlich vorenthalte.«
Manzetti konnte den Vater gut verstehen, hier schien es zuzugehen, wie bei ihnen zu Hause. Das Ordnungssystem der dortigen Büchersammlung war allein sein Werk und er war auch der Einzige, der sich daran hielt. Kerstin besaß wenigstens so viel Anstand und legte die ausgelesenen Bücher auf den Couchtisch. Somit hatte er die Möglichkeit, sie dort einzusortieren, wo sie hingehörten. Die beiden Mädchen aber verhielten sich wie teutonische Barbaren. Sie zwängten jedes Buch in die nächstbeste Lücke, und wenn sie nicht sofort eine fanden, dann schufen ihre unwürdigen Hände eben eine. Manzetti standen jedes Mal die Tränen in den Augen, wenn er einen Albert Camus aus der Umklammerung von Liebesschmonzetten befreien musste.
»Zerreißt es Ihrem Vater nicht das Herz, wenn seine gewohnte Ordnung verlorengeht?«, fragte er und sog den schweren Duft der altehrwürdigen Bände ein.
»Das glaube ich nicht«, antwortete Frieda Boll und öffnete eine weitere Tür, die vom Regalsystem fast verschluckt wurde. »Er ist vierundneunzig und kann kaum noch sehen und hören. Wenn Sie ihm etwas mitteilen wollen, müssen Sie ihm aus nächster Nähe direkt ins Ohr brüllen.«
Manzetti folgte der Malerin durch die niedrige Tür und landete in ihrem Reich, einem lichtdurchfluteten Saal. Genauso stellte sich wohl jeder Laie ein Atelier vor. Über ihm befanden sich riesige Fenster, wie auch vor und rechts neben ihm. Licht, so viel die Sonne aussandte. Auf dem Fußboden trockneten mehrere Schichten Farbe vor sich hin und überall lehnten fertige, halbfertige oder gerade erst begonnene Bilder.
»Eine andere Welt als die, die ich bei Ihrer Tochter angetroffen habe.«
Sie schob den Kopf leicht nach hinten, sagte dann aber vollkommen unaufgeregt: »Sie hätte das auch alles haben können. Das Talent war da.«
»Und warum hat sie es nicht genutzt?«
»Sie wollte nicht in einem Reservat leben. Und die Kunst schien ihr ein solches zu sein. Eines mit sehr hohen Zäunen, wie sie es auszudrücken pflegte, außerdem viel zu eng für ihren Freiheitsdrang.«
»Hat dieser Freiheitsdrang sie schließlich nach Hohenstücken gebracht?«
»Nein«, kam die Antwort entschieden. Frieda Boll zog eine bunte Strickjacke von einem Sessel und bot ihn Manzetti mit einer knappen Armbewegung zum Sitzen an. »Wie Sie vielleicht wissen, leben Menschen unterschiedlichster Prägung in Hohenstücken. Genau wie in Berlin-Marzahn. Aber das ist ein anderes Thema und deshalb werden Sie mich ja nicht aufgesucht haben. Was also interessiert Sie wirklich?«
Sie setzte sich und kramte in ihrer aus Leinenflicken zusammengesetzten Handtasche, die sie vom Boden auf ihren Schoß hob. »Es stört Sie doch hoffentlich nicht, wenn ich rauche?«, fragte sie und hielt plötzlich eine blaue Zigarettenspitze in der Hand. Es sollte wahrscheinlich wie beiläufig gefragt klingen, aber in Verbindung mit dem Plastiktütchen, das sie mit der anderen Hand umklammerte, wurde ihr Begehren zu einer kleinen Provokation. Manzetti wusste nicht, ob sie ihn testen wollte oder aber das Zeug wirklich brauchte. Jedenfalls drehte sie mit viel Geschick einen dicken Joint und entzündete ihn mittels eines kleinen Flammenwerfers. Der süßliche Geruch nach schmökendem Gras stieg sofort in seine Nase und bereitete ihm allergrößte Mühe, die gespielte Kulanz wie eine Selbstverständlichkeit aussehen zu lassen.
»Sie haben Ihren Enkel bei der Polizei als vermisst gemeldet. Wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?«
Frieda Boll sog den fast undurchdringlichen weißen Qualm bis in den letzten Winkel ihres Körpers und lehnte sich erhaben zurück. »Vorgestern. Es war am späten Nachmittag. Er wollte zu Nepomuk und dann mit ihm noch ein bisschen malen gehen.«
»Malen?«, fragte Manzetti. »Sie meinen …«
»Ja, ich meine Graffiti. Allerdings keines von dem üblichen Kringelkrangel, sondern eins, das man schon getrost richtige Kunst nennen darf. Nepomuk hatte ein irres Talent.« Ein zufriedenes Grinsen nistete sich in ihrem mittlerweile blass gewordenen Gesicht ein. Dann nahm sie wieder einen ordentlichen Zug.
»Trotzdem bleibt es illegal«, formulierte Manzetti und war sich bei ihrem Anblick nicht mehr ganz sicher, ob sie ihm in den nächsten Minuten noch würde folgen können.
»Seien Sie doch
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