Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
Vom Netzwerk:
und sich dann wieder in den Verkehr eingereiht.
    Von hier brauchte er nur noch über die Straße zu gehen, um wieder in der Redaktion zu landen. Aber dahin wollte er noch nicht, jedenfalls nicht so, wie er momentan aussah. Im Rückspiegel von Karins Golf hatte er sich kurz betrachtet und festgestellt, dass er noch immer kalkweiß war. Aber Gott sei Dank war sein Magen bereits leer.
    In der Sankt Annen Galerie fuhr er mit dem Fahrstuhl in die zweite Etage, in der die Toiletten lagen. Das kalte Wasser im Gesicht änderte aber auch nichts an seinem Spiegelbild.
    Wieder im Erdgeschoss steuerte er die kleine Kaffeebar an und bestellte einen doppelten Espresso sowie ein großes Glas Spreequell. Dann setzte er sich an einen Tisch und sah sich um. Die Galerie war noch fast menschenleer. Wer auch sollte hier zu so früher Stunde wandeln? Die Brandenburger, die in Lohn und Brot standen, mussten arbeiten, und die ohne Jobs sowie die Rentner schliefen noch bzw. saßen am heimischen Frühstückstisch.
    Die Kellnerin brachte ihm den Espresso und zündete das Teelicht in der kleinen Vase an.
    »Und das Wasser?«, erkundigte Wegmann sich nach dem zweiten Teil seiner Bestellung.
    »Bringe ich gleich«, sagte die junge Frau, der man ansah, dass sie auch lieber noch im Bett gelegen hätte. »Ich kann ja schließlich nicht hexen.«
    Nein, dachte Wegmann. Aber du könntest kündigen. Das wäre besser für dich und für die Kundschaft.
    Nach drei Minuten brachte sie ihm ohne weitere Worte endlich das Wasser. Wegmann sah auf die Uhr. Erst in zwei Stunden würde die Polizei eine Pressekonferenz abhalten, zu der auch Thomas Böttger kommen sollte. Eine mutige Entscheidung des Unternehmers, schließlich war das Mordopfer sein einziger Sohn. Als Wegmann überlegte, wohin er vorher noch gehen könnte, fiel sein Blick auf ein vorbeischlenderndes Pärchen. Der übliche Brandenburger Anblick. Sie sehr massig, er spindeldürr. Beide unter zwanzig, aber schon Eltern, sie mit unbekümmerter Miene, er der Griesgram in Person. Sie liefen nebeneinander her, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Der etwa einjährige Spross im Kinderwagen hatte dagegen mehr Interesse an seiner Umwelt. Mit großen runden Augen zwinkerte das Kind Wegmann zu.
    Mussten die jungen Eltern nicht in der Schule sein, ging es ihm durch den Kopf? Aber die hatten sie sicherlich abgebrochen, denn hätten sie durchgezogen, etwa bis zum Abitur, wären sie längst Hunderte Kilometer weit weg und würden nicht durch diese Einkaufsmeile patrouillieren.
    Als der junge Vater sich doch noch überwand und seinen Arm um die Mitte seiner Dicken schwang, dort wo einmal ihre Taille gewesen sein mochte, kam Wegmann eine Idee. Wenn schon die beiden nicht in die Schule gingen, dann konnte er das doch tun. Dort würde er bestimmt etwas über Nepomuk Böttger erfahren, was ihm bei der Pressekonferenz half, die richtigen Fragen zu stellen. Ein Schulhof war heutzutage schließlich die Tauschzentrale für Neues von Twitter und Facebook.

14
    Manzetti war von Frieda Boll direkt zu Bremer in die Rechtsmedizin gefahren. Hier hatte er lange mit Abwesenheit geglänzt, denn nach seinem Sabbatical-Jahr war noch kein Fall eingetreten, der es notwendig gemacht hätte, hierherzukommen. Trotzdem war ihm ein wenig unbehaglich. Hätte er Bremer nicht in den letzten zwei Monaten wenigstens mal anrufen sollen?
    Wie ein Leopard im Zoo pendelte Manzetti zwischen den grünen Kachelwänden des großen Sektionssaals hin und her. Bremer hatte sich kurz in sein Büro verdrückt, und Manzetti mit der Leiche von Nepomuk Böttger allein gelassen. Nach dem dritten Auf und Ab blieb er stehen und taxierte den goldfarbenen Bilderrahmen.
    Es gibt viele Menschen, die sich einbilden,
    was sie erfahren, verstünden sie auch.
    Goethe
    Es war Bremers Lieblingszitat, auf das er immer dann zeigte, wenn in seinem Reich jemand versuchte, ihm einen Vortrag zu halten, und dabei so tat, als wisse er alles besser. Manzetti teilte aus ähnlichen Erwägungen heraus die Ansicht des großen Dichters, wie auch die Vorliebe Bremers zur klassischen Literatur.
    Als er sich gerade mit den Handballen die Müdigkeit aus den Augen rieb, tauchte Bremer wieder auf. In den Händen hielt er zwei Tassen, aus denen der aromatische Wrasen von frisch aufgebrühtem Sauerkirschtee dampfte. Eine Tasse reichte der Arzt an Manzetti, mit der anderen ging er zu dem Metalltisch, wo der tote Nepomuk Böttger bereits von seinem Assistenten zur Obduktion aufgebahrt worden

Weitere Kostenlose Bücher