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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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für die Familie zu sorgen. Aber er wurde von den Serben erschossen, und nach dem Abzug dieser Schergen hat mich meine Familie gebeten, die Rolle meines Bruders zu übernehmen.«
    Wegmann nickte, auch wenn er Fatmire nicht bis ins letzte Detail folgen konnte. Zumindest wusste er nun, warum sie immer auf die Tradition hinwies, wenn er eine Frage gestellt hatte.
    »Aber dann können Frauen ja doch erben«, sagte er.
    »Nein, können sie nicht. Jedenfalls nicht nach dem Kanun. Der räumt einer Familie mit ausschließlich weiblichen Erben aber ein, dass ein Mädchen erklären kann, dass sie ein Mann ist. Sie schneidet sich die Haare ab und kleidet sich wie ein Mann. Auch darf sie fortan keine Frauenarbeit mehr verrichten, nicht heiraten und muss für den Unterhalt der Familie sorgen. So wie ich, und deshalb bin ich den Männern gleichgestellt und darf Taxi fahren.«
    Wegmann schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. »Aber das ist ja furchtbar rückständig«, sagte er.
    »In euren Augen vielleicht. Aber damit ersparen wir uns zum Beispiel Altenheime, denn unsere Alten, denen wir alles zu verdanken haben, werden in der Familie gepflegt. Ihr braucht doch eure Seniorenheime nur, weil ansonsten einer von euch aufhören muss zu arbeiten und dann aus dem Mercedes nur noch ein VW wird und anstatt zwei, nur noch eine Urlaubsreise drin ist … Du musst mir eure Gesellschaft nicht erklären. Ich habe lange genug bei euch gelebt.«
    Wegmann fand langsam die Sprache wieder. »Und du glaubst, dass ihr in der sich globalisierenden Welt noch lange nach eurem Kanon leben könnt?«
    »Kanun. Es heißt Kanun, und das glaube ich nicht. Vielleicht hast du bemerkt, dass ich mir aus beiden Systemen das Beste raussuche. Ich kann leben wie ein Mann und ficken wie eine Frau.«
    Ohne, dass Wegmann die Chance einer Abwehr blieb, griff sie ihm in den Schritt und bohrte anschließend ihre süßlich schmeckende Zunge in seinen Mund. Eine heilsame Erfahrung für ihn, war dadurch doch jeder Ekel in seinem Mund wie weggespült.

    ***

    Gut eine Stunde später lenkte Fatmire den alten Passat auf einen staubigen Parkplatz und hielt auf Höhe eines Polizisten, der die Maschinenpistole lässig vor seinem Bauch hängen ließ. Fatmire und der Polizist schimpften wie alte Männer aufeinander ein, die sich über ihr Anglerlatein hinweg in die Haare bekommen hatten.
    »Du sollst ihm deinen Presseausweis zeigen«, sagte Fatmire auf einmal und tippte gegen Wegmanns Brust.
    Der brauchte einen Moment bis er begriff, angelte dann aber seine Brieftasche hervor und gab Fatmire seinen deutschen Presseausweis. Der Polizist drehte die Plastikkarte hin und her, hielt sie sogar gegen das Sonnenlicht, roch schließlich daran und reichte den Ausweis wieder in das Fahrzeug. Dann trat er einen halben Schritt zur Seite, verstaute ein paar Geldscheine in der Hosentasche, die ihm Fatmire zugesteckt haben musste, und winkte sie durch seinen Kontrollposten.
    »Konnte er denn meinen Ausweis überhaupt lesen?«, fragte Wegmann.
    Fatmire lacht kurz auf. »Er kann wahrscheinlich überhaupt nicht lesen, aber die anderen Papiere, die ich ihm gereicht habe, versteht man auf der ganzen Welt.«
    Ohne weiteren Stopp gelangten sie nach wenigen Hundert Metern an die Baustelle, von der Fatmire zuvor gesprochen hatte. Die war durch einen undurchdringlichen Ring aus Polizistenleibern abgeschirmt, und diese Herren sahen im Gegensatz zu ihrem Kollegen von eben nicht so aus, als ließen sie sich für eine Handvoll Dollar von ihrem Auftrag abbringen.
    Aber man brauchte auch gar nicht dichter heranzugehen, denn das Geschehen an der Baugrube wurde über eine riesige Leinwand ausgestrahlt. Wegmann stieg aus und sah nach oben auf die bewegten Bilder. Der deutsche Entwicklungshilfeminister schippte gerade eine Ladung Zement in die Grube, begleitet von überschwänglichem Applaus eines Thomas Böttger und dem eines grauhaarigen, energisch wirkenden Herrn.
    »Wer ist der Grauhaarige?«, wollte Wegmann wissen.
    »Hashim Thaci. Er ist unser Premierminister. 1968 in Brocna geboren, war er der Mitbegründer und Führer der paramilitärischen UCK und spricht neben Albanisch auch fließend Serbokroatisch, Englisch und Deutsch.«
    »Das hört sich ja fast nach Verehrung an.«
    »Nein, wieso? Ich bin nur nicht lebensmüde, und das solltest du auch nicht sein, wenn du über Thaci und seine Freunde schreibst. Er gilt als einer der drei Verbindungsglieder zwischen Politik und organisierter Kriminalität im

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