Havelgeister (German Edition)
was jetzt zu tun war. Das war seine Chance. Eine, die wahrscheinlich nie in seinem Leben wiederkommen würde, eine, die man getrost mit sechs Richtigen im Lotto vergleichen konnte. Dieses eine Blatt war die Brücke aus seiner Welt der Unbedeutenden, zum Universum der Reichen und Schönen. Und er war gewillt, diese Chance zu nutzen.
Und dabei war ihm im Moment auch egal, was dieser Bremer ihm angetragen hatte. Sollten sie sich doch selbst um ihre Ermittlungen kümmern. Er brauchte keine Exklusivstory mehr, die ihm Manzetti angeboten hatte, er hatte seit einer halben Stunde eine viel ertragreichere Geschichte in der Hand.
Außerdem klang das alles sehr abenteuerlich, was ihm Bremer gerade am Telefon mitgeteilt hatte. Frieda Boll sollte tot sein, und er, Henry Wegmann, herausfinden, wer sich in Priština ihrer Identität bemächtigt hatte und damit nun durch Brandenburg rannte. Es müsse eine Person sein, die erdgebundene Geister ins Licht schickt.
Erdgebundene Geister. Wegmann konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Warum auch? Jeder wusste doch, mit welchem Problem dieser Bremer kämpfte. Da sah man schon mal weiße Mäuse oder eben erdgebundene Geister.
47
Der Anführer der kleinen Gruppe schwenkte den linken Arm. Der rechte hing gerade nach unten, an seinem Ende baumelte die Kalaschnikow. Aus seiner Bundeswehrzeit wusste Thomas Böttger, dass es sich um eine AK-74 handelte, eine äußerst beliebte, weil sehr zuverlässige Kriegswaffe. Kaliber 5,45 mm, 600 Schuss in der Minute, von denen schon der erste tödlich war.
Während des jugoslawischen Bürgerkrieges hatten sich beide Seiten mit diesem Sturmgewehr zu Fall gebracht. Auch er selbst musste Bekanntschaft mit den Geschossen machen, immer dann, wenn die serbischen Scharfschützen Freude daran hatten, den ausländischen Truppenkontingenten Angst einzujagen. Höchstens einen Meter neben seinen Füßen ließen sie die Kugeln in den Sand spritzen. Blauhelmhüpfen hieß dieser Sport, und Böttger sowie seine Kameraden erkannten nach ein paar Wochen, dass die serbischen Schützen gar nicht treffen wollten, weshalb sie nach jeder Salve zur serbischen Seite hinübergewunken hatten. Man kannte sich halt.
Von den Jungs aber, die ihn heute vom Hubschrauber abgeholt hatten, würde keiner in den Boden schießen. Dessen war sich Böttger völlig sicher. Der Oberst hatte ihn aus dem Zelt heraus hierher nach Peja, in den äußersten Westen des Kosovo beordert, und das bedeutete in aller Regel nichts Gutes. Iwan Krasniqi, wie der ehemalige UCK-Oberst mit bürgerlichem Namen hieß, war der Boss, und daran hatte niemand Zweifel. Jedenfalls niemand, der sich noch bester Gesundheit erfreute. Wir leben wieder in einer polytheistischen Gesellschaft, hatte ihm der Oberst einmal anvertraut, als er bereits mehr als eine Flasche Wodka intus hatte. Neben Buddha, Allah und eurem christlichen Gott gibt es ab sofort nämlich auch noch Iwan Krasniqi. Und um diese Aussage bildhaft zu untermauern, hatte er damals einen seiner Schergen zu sich treten lassen und ihm ohne Vorwarnung in den Kopf geschossen. Iwan Krasniqi bestimmt über Leben und Tod, war die Botschaft.
Böttger hatte diese Szene nie vergessen können, und seither allergrößte Bauchschmerzen, wenn der Oberst nach ihm rief. Heute umso mehr, da er sich zu einem Waldweg bringen lassen hatte, nur wenige Meter entfernt von der wild-romantischen Rugova-Schlucht. Böttger konnte die Quelle des Drin schon hören. Das Wasser schoss hier aus 25 Metern Höhe in die Tiefe.
»Hinsetzen«, befahl der Anführer und nickte seinen Rekruten zu, auf Böttger aufzupassen. Er selbst hielt ein Handy ans Ohr und nahm offensichtlich Anweisungen entgegen.
Thomas Böttger setzte sich auf einen großen Felsstein und begann, seine Knöchel zu massieren. Der beschwerliche Marsch durch unwegsames Gelände hatte seine Halbschuhe und damit auch seine Gelenke schnell überfordert.
»Auf«, kam es vom Anführer, der mit seiner Kalaschnikow nach oben zeigte, dahin, wo der Drin aus den Felsen heraussprengte. »Da hoch, los.«
Böttger kletterte so gut es ging und war sich sicher, dass er, sollte er jemals wieder in sein Hotel zurückkehren dürfen, die Schuhe sofort in den Mülleimer werfen konnte. Oben auf dem Felsen zogen die Männer sich zurück, die Maschinenpistole aber immer im Anschlag.
»Herr Böttger«, es war die Stimme des Obersten, der neben Holländisch auch hervorragend Deutsch sprach. Schließlich hatte er deutsche Blauhelme als eine Art
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