Havelgeister (German Edition)
vierten Gang. Der Geländewagen saß ihr mittlerweile fast im Kofferraum.
Halte durch, sprach sie sich Mut zu, wenigstens bis zu der Weggabelung, die in weniger als zweihundert Metern kommen musste. Aus ihrer Kindheit wusste sie, dass dort, wenn sie nach rechts abbog, eine Schlucht lag, durch die sie hoffentlich mit ihrem Passat passen würde, die aber für den Geländewagen zu schmal sein dürfte. Ihr Vater war mit der Familie oft hierhergekommen und musste beim Durchfahren immer die Seitenspiegel einklappen.
Als die Weggabelung im Scheinwerferlicht auftauchte, schleuderte Fatmire nach rechts, wobei sie fast einen Baum streifte. Sofort gab sie wieder Vollgas und begann, kurze Gebete in den Himmel zu schicken. Der Geländewagen hatte den weitaus stärkeren Motor und der Mann am Lenkrad war fahrerisch ebenso versiert wie Fatmire. Mit einem heftigen Stoß rammte er dem Passat seinen Bullenfänger ins Heck. Fatmires Schädel krachte in die Kopfstütze und fast gleichzeitig gegen den Türholm, was ihr kurzzeitig die Orientierung raubte. Mehr Gas, forderte sie, aber das Pedal klebte bereits am Bodenblech. Wieder schoss der Geländewagen gegen ihr Heck, und wieder schleuderte ihr Kopf gegen den Holm. Fast automatisch griff sie mit der Hand an die Schläfe und spürte die warme und klebrige Flüssigkeit zwischen den Fingern. Sie blutete wie angeschossenes Wild.
Dann aber sah sie die Rettung vor sich. Die starken Lampen auf dem Dach des Geländewagens öffneten vor ihr die Pforte zum Himmel. Hell zeichneten sich die scharfkantigen Felswände der Schlucht vom Dunkel des Waldes ab und Fatmire kniff die Augen zu.
Es rummste jämmerlich als die Spiegel abgerissen wurden und sich der linke sogar durch das geschlossene Seitenfenster drückte. Hunderte scharfkantige Glassplitter schossen über sie hinweg und schlugen weitere stark blutende Wunden in ihr Gesicht. Aber das war ihr in diesem Moment egal. Ein Blick in den Rückspiegel offenbarte, dass der Geländewagen wirklich zu breit gewesen war. Er steckte fest und hatte sofort Feuer gefangen.
Sie hielt an und drehte sich um. Sollte sie helfen? Die Insassen, sie nahm an, dass nicht nur ein Fahrer im Auto saß, würden verbrennen, denn keine der Türen ließ sich mehr öffnen. Aber diese Gedanken erwiesen sich schnell als unnütz. Von dort, wo der Beifahrer saß, blitzten helle Punkte auf und verwandelten sich augenblicklich in harte Einschläge, die ihre Heckscheibe in null Komma nichts zertrümmerten. Schnell sprang sie in ihr Auto zurück und gelangte heil bis hinter die nächste Kurve. Erst hier war Fatmire wirklich in Sicherheit.
Sie fuhr noch etwa fünf Kilometer durch den Wald, während sie immer wieder die Richtung wechselte und willkürlich nach links oder rechts abbog. Dann stellte sie den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus.
Was nun?
Hier war sie nicht mehr als eine Zielscheibe und Krasniqis Krakenarme überall. Sie musste unbedingt weg, aber auch den Leuten von Sabine wollte sie sich nicht anvertrauen. Die Deutsche hatte ihr zwar den verdeckten Hinweis auf Krasniqi gegeben, aber immerhin hatte sie Henry in das Kloster gelockt.
Fatmire zog Wegmanns Umhängetasche auf den Schoß und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Schnell wurde sie fündig. Henry hatte nicht nur seine Papiere und das Deckblatt dieses Codex Sinaiticus zurückgelassen, sondern auch seine beiden Handys. Von dem billigeren der beiden, hatte er gesagt, solle sie eine Nummer wählen, die hinter dem Namen Manzetti stehe. Jedenfalls für den Fall, dass er nicht wie vereinbart nach einer Stunde gesund das Kloster wieder verlassen sollte.
Fatmire nahm das Telefon und drückte auf die grüne Taste.
»The person you have called is temporarily not available.«
Sie klickte sich weiter durch das Menü und stieß auf einen weiteren Namen, den sie von Henry immer mal wieder gehört hatte.
»Wegmann, sind Sie das?«
»Nein«, sagte Fatmire, »ich … ich bin seine Fahrerin. Henry wird in einem Kloster gefangen gehalten, vielleicht ist er auch schon tot. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Er hat mir gesagt, dass ich einen Herrn Manzetti anrufen soll, wenn ihm etwas passiert. Aber den erreiche ich nicht. Ich habe Angst.«
»Wo sind Sie jetzt?«, fragte Bremer, der an der Stimmlage der jungen Frau erkannte, dass die Angst nicht gespielt war.
»In einem Waldgebiet in der Nähe von Peja. Ich kann zu Ihnen nach Deutschland kommen. Ich habe Henrys Flugticket.«
»Ja, machen Sie das. Wir holen Sie
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