Havelsymphonie (German Edition)
Tochter stellen?“
Reinhard sah Manzetti wenig begeistert an.
„Natürlich nur, wenn es Sie nicht zu sehr belastet.“
„Machen Sie nur“, gestattete Reinhard und versuchte, sich bequemer hinzusetzen, ohne seine aufrechte Haltung aufzugeben. „Ich bitte Sie lediglich darum, meine Frau herauszuhalten. Sie ist sehr schwach, weil sie den Tod von Carolin einfach nicht akzeptieren will.“
„Natürlich.“ Manzetti schlug ein Bein über das andere, hatte aber im Augenblick nichts gegen den Wunsch Reinhards einzuwenden. „Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrer Tochter?“, fragte er.
„Gut. Sehr gut sogar. Sie war unser Ein und Alles, müssen Sie wissen. Und sie hat uns große Freude gemacht.“
„In musikalischer Hinsicht?“
Reinhard zögerte. „Auch musikalisch“, antwortete er nach kurzem Nachdenken. „Aber vor allen Dingen als Tochter. Sie war sehr liebevoll, sie hat uns nie Kummer bereitet. Und ja, sie war natürlich begabt.“
„Wollte Carolin aus eigenem Antrieb Musikerin werden oder um in die Fußstapfen der Mutter zu treten?“, Manzetti nickte mit dem Kinn zur Oboe, die noch immer neben Reinhard auf dem Boden lag.
„Es waren eher die Fußstapfen der Mutter.“
„Herr Reinhard, wie war der Kontakt zwischen Ihrer Frau und Ihrer Tochter?“
„Gut, sehr gut sogar“, sagte Reinhard bestimmt. In seinem Gesicht erschien um Mund und Nase ein harter Zug. „Aber das sagte ich doch schon. Wir waren stolz auf unsere Tochter und wir waren das, was man in Deutschland eine gutbürgerliche Familie nennt.“ Reinhards Augen begannen wieder zu funkeln. Anscheinend bäumte er sich nicht nur gegen die Fragen auf, sondern gegen die gesamte Situation. So jedenfalls empfand es Manzetti.
Tatsächlich fühlte sich Manfred Reinhard nicht wohl, was auch damit zu tun hatte, dass er es nicht gewohnt war, auf Fragen zu antworten, und er wollte das auch gar nicht mehr erlernen. Ein Richter stellte die Fragen, allenfalls kommentierte er die Fragen der anderen. Aber dieses Gespräch lief genau anders herum. Auch wenn er wusste, dass es die Pflicht des Polizisten war, er empfand sein Verhalten als respektlos.
Die gewünschte Wirkung seines veränderten Gesichtsausdrucks blieb nicht aus, denn Manzetti hatte augenblicklich ein komisches Gefühl im Bauch und zog es vor, dem Blick Reinhards auszuweichen. Er schaute zum Regal und dort auf eine Reihe von Fotografien, die links mit einem blonden Baby begann und rechts nach Bild zwanzig mit einer Trompeterin auf der Bühne der Berliner Philharmonie endete. Komisch. Was die eine Wohnung zu wenig hatte, schien in der anderen kein Ende zu nehmen.
Manzetti wusste nicht weiter, und als er die rechte Hand vom Oberschenkel nahm, hatte sie eine feuchte Stelle auf dem glänzenden Stoff hinterlassen. Sein Blick suchte Sonja, aber die saß wie erstarrt mit halb geöffnetem Mund mucksmäuschenstill auf ihrem Stuhl. Schließlich griff er in die Tasche seines Sakkos und blätterte dann in dem kleinen Block. Er bemerkte zwar Reinhards nagenden Blick, aber der verlor im Augenblick seine Eindringlichkeit, denn irgendwie konnte sich Manzetti mit beiden Händen an dem Papier festhalten. Jedenfalls innerlich.
„Herr Reinhard“, begann er und sah den Mann geradeheraus an. „Ich habe erfahren, dass Carolin nicht ohne Grund aus Ihrem Haus ausgezogen ist. Stimmt das?“
Reinhard erhob sich ruckartig, stapfte zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf den schweren Drehstuhl. „Warum fragen Sie das?“ Die Mundpartie des pensionierten Richters wurde noch kantiger.
„Es interessiert mich, es muss mich interessieren“, antwortete Manzetti mit nur noch wenig Unsicherheit in der Stimme.
„Und weshalb?“ Reinhard brachte sich in eine erhöhte Position, indem er die Sitzfläche des Stuhls nach oben fahren ließ. „Sie glauben doch wohl nicht, dass wir sie hinausgeworfen haben“, empörte er sich ziemlich lautstark.
„Nein, überhaupt nicht.“ Manzetti erhob sich und trat direkt vor den Schreibtisch, sodass er aus einer Höhe von einsfünfundachtzig zu Carolin Reinhards Vater hinabsehen konnte. „Aber ich muss mir ein Bild von Carolin machen. Und dazu gehört auch ihr Umfeld. Familie, Freunde, Bekannte. Sie verstehen das doch bestimmt.“
Mehr musste Manzetti eigentlich nicht sagen, und er musste auch nicht seine Stimme erheben, denn das sollte ausreichender Appell an einen ehemaligen Juristen gewesen sein, noch dazu fast von oben herab vorgetragen.
Reinhard schwieg trotzdem
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