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Havelsymphonie (German Edition)

Havelsymphonie (German Edition)

Titel: Havelsymphonie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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war.
    Manzetti setzte sich in den Sessel, nahm allen Mut zusammen und las die Zeilen endlich bis zum Ende.
    „Du weißt, dass ich Dich liebe. Aber für eine Vaterschaft bin ich noch nicht reif. Ich werde das Geld für eine Abtreibung zusammenbekommen. Du musst Dich entscheiden zwischen dem Kind und mir.“
    Nur langsam kehrten seine Lebensgeister zurück. Er goss sich einen Grappa ein, den er aber nicht sofort trank. Rastlos tigerte er minutenlang durch die Wohnung, immer noch jenes dumpfe Dröhnen im Kopf, das erst nachließ, als er das Schnapsglas wieder in die Hand nahm und die Flüssigkeit ohne Genuss in sich hineinkippte.
    Zum Teufel noch mal, dachte er. Das kann doch nicht wahr sein. Sie ist doch erst fünfzehn.
    Manzetti saß wieder im Sessel und hielt die Grappaflasche umklammert wie ein Schiffbrüchiger ein Stück des gebrochenen Mastes. Er goss sich erneut ein, stand auf und öffnete die Balkontür. Luft. Er brauchte unbedingt frische Luft.
    „Lara, was machst du?“, sprach er ganz leise vor sich hin. „Was soll denn aus dir werden, Kind? Und wer hat dir das angetan?“
    Er hatte etwas getan, was man eigentlich nicht tut, aber daran dachte er im Moment überhaupt nicht mehr. Ihm gingen andere Worte durch den Kopf. Fingerbrechen, Prügelstrafe, Schwanz abschneiden, Blutrache. Dagegen war im Moment kein Kraut gewachsen, und seine deutsche Seite war zu schwach, um in dieser Situation der italienischen Paroli bieten zu können.
    „Ich weiß, dass Sonntag ist. Trotzdem brauche ich dich“, sprach er mit rüdem Tonfall ins Telefon. „Hol mich hier ab!“
    Dann goss er sich noch mal nach und wartete.
    „Was ist denn los?“, fragte Sonja wenig später. Sie saß auf dem Fahrersitz und schaute aus verschlafenen Augen.
    „Wir müssen nach Brielow“, gab Manzetti die Marschrichtung an und stierte geradeaus durch die Frontscheibe.
    „Was sollen wir in Brielow?“
    Manzetti schwieg.
    „Andrea, was sollen wir in Brielow?“ Als sie wieder keine Antwort bekam, zog sie demonstrativ den Schlüssel ab. „Wenn du mir nicht sagst, was wir in Brielow sollen, dann fahre ich keinen Meter.“
    „Vergewaltigung.“ Er stierte weiter geradeaus.
    „Vergewaltigung? Von wem?“
    Manzetti antwortete wieder nicht.
    „Andrea, hast du getrunken?“, fragte sie, als seine Grappafahne ihre Nase erobert hatte.
    „Fahr endlich“, schrie er plötzlich. „Fahr zu diesem bescheuerten Reiterhof.“
    Sonja zuckte kurz zusammen und startete den Wagen. Erst fünfzehn Minuten später, als sie am Tor des Reiterhofes anhielt, traute sie sich, erneut eine Frage zu stellen.
    „Was ist denn nun passiert?“, formulierte sie ganz vorsichtig.
    „Vergewaltigt“, sagte Manzetti noch immer mit Tunnelblick. „Er hat sie vergewaltigt, das Schwein.“
    „Wen?“
    „Lara.“ Endlich war es aus ihm raus. Er bekam feuchte Augen.
    Sonja brauchte eine Weile. Auch sie musste die ungeheuerliche Nachricht erst verdauen. „Wo ist sie jetzt?“, fragte sie schließlich.
    „Na, in Buckow“, antwortete Manzetti, und dann brachen alle Dämme. Sturzbäche quollen aus seinen Augen und Unmengen Schleim verstopften seine Nase. Es dauerte mehrere Minuten, bis er wieder vernünftig reden konnte. Dann aber erzählte er Sonja das, was er bislang wusste.
    „Und wie kommst du auf Vergewaltigung? Dafür gibt es doch überhaupt keine Anhaltspunkte. Es gibt auch noch Liebe. Auch unter Jugendlichen.“
    Einen solchen Gedanken konnte Manzetti im Augenblick nicht zulassen. Sie war doch seine Tochter, sein großer Engel, und sie hatte sich bislang noch immer an seine Vorgaben gehalten.
    Als er wieder nicht reagierte, fragte Sonja: „Hast du mit Kerstin gesprochen?“
    „Nein, wie denn? Sie ist doch auch in Buckow.“
    „Hast du sie nicht einmal angerufen?“
    Manzetti schüttelte wie ein ertappter kleiner Junge den Kopf.
    „Was willst du dann hier?“
    „Ich will den Namen von diesem …“ Weiter kam er nicht, denn die Erregung wuchs wieder derart, dass er die Backenzähne gewaltig aufeinanderreiben musste, um nicht erneut loszuheulen.
    „Sollten wir nicht erst mit Kerstin und vor allen Dingen mit Lara reden?“
    „Wozu?“ Er sah Sonja an diesem Sonntag zum ersten Mal in die Augen.
    „Andrea, ich kann ja verstehen, dass du emotional aufgewühlt bist. Aber wir können doch hier nicht als neutrale Ermittler auftreten. Und Polizei funktioniert so nicht. Erinnere dich. Du warst es immer, der uns beigebracht hat, dass Gefühle an der Garderobe abzugeben

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