Havelsymphonie (German Edition)
ist auch nicht ausgeschlossen. Die Fundstelle, die Aufmachung Ihrer Tochter, das ganze Drumherum, es gleicht alles einer sorgfältigen Inszenierung, und wir vermuten sogar Bezüge in die Welt der Oper.“
„In welche?“, fragte Eva Reinhard.
„La Bohème.“
„La Bohème“, wiederholte sie und sah in Gedanken versunken auf den Fußboden. „Nein, dazu fällt mir nichts ein“, sagte sie, als sie den Kopf wieder hob. „Außerdem wurde Mimi nicht getötet, sondern starb an Schwindsucht.“
„Das wissen wir und wir glauben auch, dass der Mörder sich nicht auf Puccini bezog, sondern auf Murger, also die literarische Vorlage für die Oper, und zwischen beiden gibt es bekanntermaßen gravierende Unterschiede.“
„Das ist mir nicht bekannt“, sagte sie leicht konsterniert. „Wenn ich Ihnen weiterhelfen soll, dann stellen Sie mir bitte präzise Fragen.“
Manzetti überlegte kurz. „Ich habe vorhin schon mit Ihrem Mann darüber gesprochen.“ Er machte eine neue Pause, während der er zu Manfred Reinhard sah. „Wir haben von Kollegen Ihrer Tochter erfahren, dass sie das Elternhaus nicht ohne Grund verlassen hatte.“
„Das stimmt“, gab Eva Reinhard unumwunden zu und sah ebenfalls zu ihrem Mann, der still in seinem Sessel saß, kleine Schnipsel von einem Blatt Papier abriss und die zu winzigen Kügelchen drehte. „Mein Mann und ich sind seit achtundzwanzig Jahren verheiratet. Als wir uns kennen lernten …“ Weiter kam sie nicht, denn alle Augen starrten auf den Mann im Sessel, bis sich Sonja als erste aus ihrer Lähmung befreite, zu Manfred Reinhard stürzte und den krampfenden Körper zu bändigen versuchte, um, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatte, mit der Mund-zu-Mund-Beatmung zu beginnen.
8
Manzetti stand in der Küche. Es war schließlich Sonntag und Zeit zu frühstücken. Eigentlich ein schönes Ereignis, aber heute schmeckte es ihm nicht besonders, was nicht an den Brötchen lag, sondern daran, dass er allein essen musste. Nur noch heute, dachte er. Nur noch ein paar Stunden, dann endlich würden sie wiederkommen.
Bis dahin musste er sich noch ein bisschen mit dem Tod der Trompeterin befassen, sich vor allem einen Fahrplan für die nächste Woche machen. Ob er wollte oder nicht, ihm blieb nichts weiter übrig, als noch einmal nach Potsdam zu fahren, denn selbst wenn Richter Reinhard weiter auf der Intensivstation betreut wurde, so war doch ein Gespräch mit dessen Ehefrau möglich und eigentlich auch notwendig.
Er ging ins Zimmer seiner großen Tochter, um ein paar Blatt Papier zu holen, das Lara dort mit Sicherheit lose herumliegen hatte. Das Zimmer wirkte steril. Es verströmte nicht die wuselige Kindlichkeit mit unzähligem Spielzeug, es war mehr das Zimmer einer werdenden Frau. Das musste Kerstin gemeint haben, als sie neulich über Laras pubertäre Oxersprünge gesprochen hatte.
Manzetti nahm einen Bilderrahmen in die Hand. Hektor in voller Blüte. Hektor war das Lieblingspferd seiner großen Tochter, jener Hengst, dem Lara unendlich viel Zeit widmete. Er war nicht ganz aufmerksam, als er das Bild wieder abstellte, denn noch in dem Moment, da er sich umdrehte, fiel es polternd zu Boden. Die Splitter der Glasscheibe verteilten sich um seine Füße, und der Standbügel lag direkt vor ihm. Mist, dachte er.
Er bückte sich und legte die intakten Einzelteile des Bilderrahmens auf Laras Nachttisch. Dabei fiel ihm die winzige weiße Ecke eines Zettels auf, die zwischen Foto und Rückwand hervorguckte. Er stand wie festgenagelt.
Sollte er oder sollte er nicht?
Dann zog er den Zettel heraus und legte ihn verkehrt herum aufs Bett.
Wäre es nicht ein riesiger Vertrauensmissbrauch und durch nichts zu entschuldigen? Aber vielleicht nur, solange Lara davon nicht erfahren würde …
Nur Sekunden später rammte schon die erste Zeile einen spitzen Pflock in sein Herz. Sein halbitalienisches Blut geriet augenblicklich in Wallung, und in den Ohren stellte sich dröhnendes Pochen ein, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Es war gewaltig, es haute den ansonsten so kräftigen Körper um, so wie ein Orkan ganze Bäume umknickt, als seien es Streichhölzer.
Oh Gott, ging es ihm durch den Kopf.
Manzetti stolperte ins Wohnzimmer, den Zettel in der zittrigen rechten Hand. Wieder versuchte er die erste Zeile zu lesen und wieder stockte er nach wenigen Worten. Angst stellte sich ein, eine böse Vorahnung, die von der jugendlich-krakeligen Handschrift ausging, die nicht die seiner Tochter
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