Havelsymphonie (German Edition)
und vermied es, zu Manzetti hochzusehen.
„Herr Reinhard, bitte. Es ist wichtig“, beschwor Manzetti ihn und büßte damit ein Stück seiner Überlegenheit ein.
„Wir leben nur noch zusammen“, sagte Reinhard nach einer weiteren Pause zögerlich und sah Manzetti jetzt an, als müsse er dringend um Absolution bitten. „Wir sind seit dreißig Jahren verheiratet. Das ist eine verdammt lange Zeit.“ Er ging wieder zu seinem Sessel zurück, wo er die Oboe vom Boden aufhob und dann bewegungslos in den Händen hielt.
„Sie haben sich also auseinandergelebt, wie man das heute nennt“, stellte Manzetti fest und setzte sich wieder.
Reinhard nickte, dankbar für Manzettis Formulierung.
„Und Carolin? Wie ging sie damit um?“
„Sie zog irgendwann aus. Sie wollte allein sein und fand eine Wohnung in Berlin. Prenzlauer Berg, mit zwei Kommilitoninnen. Damit war es für uns alle leichter. Carolin kam nur noch einmal im Monat für ein paar Stunden, und dafür konnten meine Frau und ich uns gerade noch zusammenreißen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Er verstand. „Aber Sie haben Ihre Tochter vermisst, oder?“
„Wie kommen Sie denn darauf? Es war schließlich Carolins Wille, sie war erwachsen, und außerdem war sie ja nicht aus der Welt“, versuchte Reinhard seine Gefühle herunterzuspielen.
Manzetti hatte bei seiner Frage an die Kamera denken müssen, mit der all die schönen Fotos von Carolin gemacht worden waren und hinter der bestimmt ein stolzer Vater gestanden hatte. Die kleine Galerie im Bücherregal erinnerte zu sehr an einen Altar.
„Trotzdem hat sie Ihnen gefehlt, oder?“
„Haben Sie Kinder, Herr Manzetti?“ Reinhard sah den Polizisten abwartend an.
„Ja, zwei Mädchen.“
„Fehlen die Ihnen nicht auch manchmal?“
Manzetti schwieg. Er würde jetzt nicht mit dem Richter seine eigenen Gefühle diskutieren. Es ging ihn nichts an, dass ihm seine Mädchen immer fehlten.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und eine grazile Frau trug ein Tablett mit drei großen Kaffeetassen herein.
„Das ist meine Frau Eva.“ Reinhard erhob sich. Auch Manzetti und Sonja standen auf und grüßten kurz.
„Ich habe mir erlaubt, einen Kaffee zu kochen“, sagte Eva Reinhard und streckte Manzetti das Tablett entgegen. Der nahm es ab und stellte es auf den kleinen Tisch.
Jetzt wurde es spannend. Frau Reinhard, dreißig Jahre jünger als der Gatte, sah alles andere als schlecht oder erschöpft aus, wie es Reinhard Glauben machen wollte. Hier stand eine Frau, die sicherlich um die Tochter trauerte, die aber keinen verzweifelten Eindruck machte und nun mit dem Leben haderte. Warum hatte ihr Mann sie aus allem raushalten wollen?
„Vielen Dank.“ Manzetti reichte Sonja eine Tasse. „Mein aufrichtiges Beileid, Frau Reinhard.“
Sie nickte und setzte sich in den Drehstuhl, den sie allerdings vor den Schreibtisch zog und geräuschvoll nach unten fahren ließ. „Fragen Sie!“
„Wie bitte?“, stotterte Manzetti überrascht.
„Fragen Sie mich, was Sie wollen. Deshalb sind Sie doch hier, oder?“
„Aber Eva …“ Weiter kam Reinhard nicht, denn seine Frau erstickte seinen Einwand mit einem einzigen Blick. „Nun?“ Sie sah wieder zu Manzetti, der kaum sichtbar mit dem Kopf schüttelte.
„Frau Reinhard, welchen Kleidungsstil bevorzugte Carolin?“
„Kleidung? … Jeans und Pullover.“
„Und Kleider? Trug sie manchmal auch Kleider?“
„Nicht einmal im Sommer. Carolin trug immer Hosen. Ich glaube, dass sie auch gar keine Kleider besaß.“
„Und Schürzen?“
Eva Reinhard sah zu Sonja. „Sie können ja fragen, was Sie wollen, aber was soll das?“
Sonja nahm die Tasse vom Mund. „Als man Ihre Tochter fand, trug sie ein wadenlanges Kleid, grau, mit Puffärmelchen. Ich tippe auf den Stil der vierziger oder fünfziger Jahre. Darüber hatte sie eine Schürze gebunden.“
„Nein, das passt nicht zu Carolin.“
„Frau Reinhard“, sagte Manzetti und übernahm damit wieder das Zepter. „Wir haben die Vermutung, dass Ihre Tochter getötet wurde, um … wie soll ich es sagen? Nun, wir haben Grund zu der Annahme, dass hinter dieser Tat eine ziemlich komplizierte Geschichte steckt und Ihre Tochter nicht zufällig Opfer wurde.“
„Also, das ist ja ungeheuerlich. Was wollen Sie denn ...“, begann Reinhard und erntete dafür den gleichen Blick von seiner Frau wie vor wenigen Sekunden.
„Sie meinen, dass es kein Zufall war, dass Carolin Opfer wurde?“
„Wir sind nicht ganz sicher. Aber es
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