Havelsymphonie (German Edition)
beschäftigt hatten. Wie Sie wissen, handelt es sich bei den Bohémiens , den Zigeunern, wie man sie früher nannte, um Pariser Künstler, die mehr schlecht als recht existierten und als Maler, Komponisten oder Dichter von der Hand in den Mund lebten. In der Oper verliebt sich einer von ihnen, nämlich Rodolfo, in die Stickerin Mimi und die stirbt in der dramatischen Schlussszene an Weihnachten in der Wohnung ihres Rodolfo an Schwindsucht.“
„Richtig“, bestätigte Manzetti, der eigentlich etwas Neues erwartet hatte. „Nur passt das, wie gesagt, nicht zu unserem Mordfall“, fügte er deshalb an.
„Nur nicht resignieren, Herr Manzetti“, besänftigte Hendel und strich sich wie zur Einleitung des Schlussakkords mit beiden Händen durch seine Lockenpracht. „Das Libretto der Oper weicht nämlich in diesem Punkt von seiner Vorlage ab.“
„Aha“, gestand Manzetti seine Unwissenheit.
„Puccini hat sich durch den Roman Bohème zu seiner Oper inspirieren lassen.“
Treffer, Schiff versenkt, dachte Manzetti und verglich sich bei seinen Ermittlungen mit einem Admiral, der das Meer durchpflügte, um die Flotte des Gegners aufzuspüren und zu vernichten.
„Das Buch sollten Sie unbedingt lesen“, empfahl Hendel.
„Können Sie es nicht kurz zusammenfassen?“, bettelte Manzetti, der zum Lesen eines Romans im Moment nicht die nötige Zeit besaß.
„Einverstanden.“ Hendel lächelte. „Bei Murger stirbt Mimi vollkommen undramatisch und allein im Krankenhaus. Das passt also auch nicht zu Ihrer Leiche.“ Hendel sah Manzetti durchdringend an und machte eine kleine Kunstpause. Dadurch puschte er zusätzlich und sicherlich nicht ganz ungewollt die Spannung an. „Aber bei Ihnen geht es ja auch nicht um Mimi, sondern um Franziska.“
Manzetti konnte sich jetzt kaum noch zügeln. Am liebsten wäre er dem Intendanten an die Kehle gesprungen und hätte ihn solange geschüttelt, bis endlich jedes verdammte Wort aus ihm herausgesprudelt käme. „Ich kenne keine Franziska. Und in der Oper La Bohème gibt es auch keine Figur mit diesem Namen“, sagte er innerlich bebend.
„In der Oper nicht. Aber im Roman von Murger.“ Hendel baute wieder eine dramaturgische Pause ein, in der Manzetti jeden Muskel anspannte. Er war zum Sprung bereit. „Und?“, flehte er schließlich.
„Franziska ist auch ein junges Mädchen, das sich mit einem Bohémien eingelassen hat. Wie Mimi stirbt auch sie an Schwindsucht und wie Mimi hatte auch sie immer kalte Hände, die sie in einem Muff wärmte. Che gelida manina. Aber Franziska stirbt wie Ihr Opfer an einem ersten November und … jetzt passen Sie auf, Herr Manzetti, … nachdem ihr ein welkes Blatt durch das geöffnete Fenster auf ihre Bettdecke gefallen war. Ein gelbes Blatt.“
Hendel stand jetzt auf, machte einen Kratzfuß und verneigte sich vor Manzetti. Wieder und wieder senkte er seinen Kopf tief nach unten und strahlte bei jedem Auftauchen breiter.
„Haben Sie vielleicht auch eine Erklärung für die Gipsrückstände und das Öl?“, fragte Manzetti in den eigenen Applaus hinein.
Hendel hatte eine. „In Murgers Roman hat Franziskas Geliebter das Gesicht der Toten mit Gips abgeformt“, erklärte er. „Für die Ewigkeit meinethalben. Und um ihr nicht wehzutun, hat er es vorher mit Olivenöl eingerieben, um die getrocknete Maske schmerzfrei wieder abzunehmen.“
„Von einer Toten?“, wunderte sich Manzetti.
„Das war noch Liebe“, schwärmte Hendel und hob beide Arme theatralisch zur Decke.
7
Sie glitten auf der A 10 in Richtung Potsdam. Manzetti schwieg schon den gesamten Samstagmorgen, und so konnte sich Sonja ganz aufs Fahren konzentrieren.
Er saß regungslos auf dem Beifahrersitz und starrte apathisch aus dem Fenster, wobei er fand, dass die Natur über Nacht einen anderen Anzug angelegt hatte. Alles war in stumpfes Grau getaucht, und die Sonne des letzten Tages spurlos verschwunden. Vielleicht war das der Grund für seinen Seelenzustand, und irgendwie passte das Wetter auch zu seiner jetzigen Mission.
Wenn er Glück hatte, würden die Eltern von Carolin Reinhard zu einem Gespräch bereit sein, anderenfalls würden beide mit zusammengepressten Knien nebeneinander auf dem Sofa sitzen, gefangen in einem tiefen Schockzustand.
„Schöne Weihnachten“, sagte Sonja plötzlich und zerstörte damit die Ruhe und seinen Gedankenfluss.
„Hm“, antwortete er deshalb kurz angebunden.
„Was hm?“
„Hm.“
„Hörst du mir überhaupt zu?“
„Was?“
„Ob
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