Havelsymphonie (German Edition)
du mir zuhörst, habe ich gefragt. Andrea, du scheinst sehr weit weg zu sein. Bedrückt dich etwas?“
„Nein. Wie kommst du denn darauf?“, wiegelte Manzetti ab und wagte einen Blick auf das Navigationsgerät. Noch dreiundzwanzig Minuten bis zum Ziel.
„Es sieht jedenfalls so aus. Worüber grübelst du denn? Oder darf ich das nicht wissen?“, bohrte Sonja weiter, während aus dem Lautsprecher „Jingle Bells“ erklang, was bei Manzetti Verwunderung hervorrief. Weihnachtslieder vor Totensonntag? Aber warum nicht? Es passte zu den Lebkuchen und Dominosteinen, die jeder Supermarkt seit September anbot.
„Ich denke über Weihnachten nach“, behauptete er. „Es muss furchtbar sein, wenn man wenige Wochen vor dem Fest sein einziges Kind verliert. Ich beneide die Reinhards nicht.“ Dann verstummte er wieder.
An der Abfahrt Babelsberg verließen sie die Autobahn und reihten sich in den zähfließenden Verkehr ein. Unzählige Menschen waren zum Sterncenter unterwegs, dem Einkaufstempel schlechthin in der Region. Na klar, es war Wochenende und Monatsanfang, es hatte gerade Geld gegeben.
Sonja hielt vor einer roten Ampel. Neben ihnen stand ein Van, vollgepackt mit einer fünfköpfigen Familie, nebst Oma und Hund. Alle schauten in die Richtung, in die der Vater blickte, keiner von ihnen sah nach links oder rechts. Das nannte man zielstrebig.
Das Navi zeigte noch sieben Minuten. Aber ein Navi, dachte Manzetti, rechnet nicht mit Einkaufssamstagen. Ein Navi funktioniert wie die Familie im Auto. Zielstrebig.
„Denkst du an deine beiden Mädchen?“, fragte Sonja und schaute sogar zu Manzetti hinüber.
„Nein“, log er schroff. „Fahr du lieber. Es ist Grün.“
Dann tauchte er wieder in seine Gedankenwelt ab. Tatsächlich hatte er kurz darüber nachgedacht, wie es ihm ergehen würde, sollten er und Kerstin eine der beiden Töchter zu Grabe tragen müssen. Aus Gründen des Selbstschutzes war er allerdings kontrolliert genug, um diesen Gedanken wegzuwischen, wie einen Kaffeefleck von der Schreibtischplatte. Und es waren auch nicht nur die Eltern des Mordopfers, denen seine Konzentration galt. Es war die Tote selbst, die ihm unendliches Kopfzerbrechen bereitete.
Vor knapp einer Stunde, als sie die Tür zur Wohnung von Carolin Reinhard hinter sich geschlossen hatten, war Manzetti auch der letzten Hoffnung beraubt worden, den Fall vielleicht doch etwas schneller lösen zu können. Carolin hatte ein Zimmer in einer WG mit drei anderen Theaterleuten, was bei einer jungen Musikerin nicht ungewöhnlich war. Ins Auge fiel allerdings die Einrichtung, oder besser das, was dort fehlte, was man eigentlich bei einer künstlerisch ambitionierten jungen Frau vermutet hätte. Nämlich Fotos. Im ganzen Zimmer fand sich kein einziges Foto. Nicht einmal eines aus Kindertagen mit glücklichen Eltern im Hintergrund, das wenigstens griffbereit in der Schublade lag. Nichts dergleichen. Jede Erinnerung an ihre Familie schien wie ausgelöscht. Was konnte das bedeuten?
Entgegen der Ankündigung des Navi kamen sie erst nach weiteren fünfzehn Minuten vor dem Haus der Reinhards an. Das schlichte Gebäude passte in Form und Farbe zu den anderen Reihenhäusern und fiel nicht weiter auf. Es hatte nichts von dem Glanz des anderen Babelsbergs, das nur wenige Kreuzungen weiter lag und in dem die Villen früherer UFA-Stars standen. Marlene Dietrich oder Fritz Lang hatten dort gewohnt, und jene Häuser verströmten noch immer diesen Charme, den sie gewiss bereits besessen hatten, als noch niemand an Hollywood oder eine Oscarverleihung dachte. Die Reinhards dagegen wohnten im schlichten Teil der Stadt, in dem des Fußvolkes.
„Wie wollen wir es machen?“, fragte Sonja, als sie auf die Klingel drückte.
„Lass mich bitte reden“, lautete der knappe Kommentar von Manzetti.
*
„Bitte kommen Sie“, forderte Herr Reinhard sie auf und trat neben der Tür zur Seite. „Man hat Ihren Besuch bereits angekündigt.“
„Guten Morgen“, grüßte Manzetti und reichte Manfred Reinhard unsicher die Hand. „Mein aufrichtiges Beileid.“
Manfred Reinhard nickte nur und sah dann schnell nach unten.
Als er wieder aufblickte, bat er die Besucher mit aufrechter Haltung in den Flur und wies mit dem rechten Arm auf eine Tür. „Bitte hier entlang. Wir gehen in mein Arbeitszimmer.“
Sie landeten in einem Raum mit niedriger Decke. Manzetti schätzte, dass zwischen ihm und der Decke lediglich zehn, höchstens fünfzehn Zentimeter lagen, und er glaubte
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