Havelsymphonie (German Edition)
hinterher“, protestierte er.
„Und wie bist du an den Zettel gekommen?“
„Das war ein Unfall“, sagte er kleinlaut. „Das musst du mir glauben.“
„Ein Unfall also. Aha.“
„Ja, ein Missgeschick. Aber woher weißt du das alles?“
„Lara hat mit mir in Buckow über Nora gesprochen, und ich hätte dich eingeweiht, spätestens heute Abend. Wie bist du eigentlich auf eine Vergewaltigung gekommen?“
„Ich? Wer sagt das denn?“
Kerstin verdrehte nur die Augen.
„Das war wohl der Grappa“, musste Manzetti eingestehen. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Lara … dass unser Kind …“
„Was bist du für ein Kerl?“, fragte Kerstin und ließ ein kurzes Lächeln zu. „Ihr Italiener poppt euch durch halb Europa und wenn die eigenen Kinder daran auch Freude entwickeln sollten, ruft ihr gleich nach dem jüngsten Gericht.“
„Ich bin gar kein richtiger Italiener.“
„Manchmal schon, mein Lieber. Was wolltest du eigentlich am Reiterhof?“
Manzetti sah zu Kerstin hinunter, sah ihr Gesicht, verstand ihre Körpersprache und schämte sich so, als wäre er hunderten Menschen ausgesetzt, die alle mit dem Finger auf ihn zeigten. Deshalb umging er die Antwort und stellte lieber eine Frage. „Wo ist sie denn?“
„Lara?“
„Ja.“
„Bei Sonja.“
Manzetti zog die Stirn kraus. „Brinkmann?“
„Wie viele Sonjas kennen wir denn?“
„Was will sie denn da?“
„Dir aus dem Weg gehen.“ Kerstin ließ ihn los und machte einen Schritt nach hinten.
„Warum das denn?“, fragte er bestürzt.
„Darüber solltest du einmal in Ruhe nachdenken. Ganz allein und nicht übereilt. Aber vorher holst du bitte Paola, damit wir endlich essen können.“
9
Sonja Brinkmann war vor achtundzwanzig Jahren als Nesthäkchen eines Lehrerehepaars in Potsdam zur Welt gekommen. Auch ihre beiden wesentlich älteren Schwestern hatten, der Familientradition folgend, den Beruf des Pädagogen ergriffen, die eine für die Grundschule, die andere mit Lehrberechtigung für die Sekundarstufe. Also wurde die kleine Sonja früh nach allen Regeln der alten und neuen Wissenschaften erzogen, was nicht lange auf Resultate warten ließ. Und die waren alles andere als das, was der Clan sich vorgestellt hatte.
Für den kleinen Familiennachkömmling stand nämlich sehr schnell fest, dass sie alles werden wollte, Maurer, Bäcker, auch Uhrmacherin und Straßenbahnfahrerin, nur eben nicht Lehrerin. Und diese Vorstellung hatte sich tief in sie eingegraben, so tief, dass sich in ihr automatisch alle Muskeln verkrampften, sobald sie nur auf die mögliche Karriere im Schuldienst angesprochen wurde.
Lass sie bocken, hatte es dann immer nur geheißen, und die kleine Sonja bockte, was das Zeug hielt, oft auch, weil es der einzige Ausweg für sie war. Und sie scheute sich nicht, dann mit allem um sich zu werfen, was die kleinen Hände zu greifen bekamen.
Irgendwann war es aber vorbei mit den Wutanfällen, denn spätestens, als die Abiturprüfungen langsam näher rückten, war es ernst geworden. Bocken half nun nicht mehr, es musste eine Alternative her, schleunigst, und vor allen Dingen eine, die mit Schulhäusern nichts, ja nicht einmal im Entferntesten etwas zu tun hatte.
Polizistin, hatte sie zu ihrem Vater eines Tages gesagt, Polizistin will ich werden.
Zuerst hatte sie geglaubt, dass der Vater sie nur akustisch nicht verstanden habe, als er aber betonte, dass er wohl nicht richtig gehört hätte, wusste Sonja, dass sie zu härteren Mitteln greifen musste. Und was war gnadenloser und beständiger, als der bloße Wunsch der Tochter?
Genau, ein Tattoo.
Sie brauchte dringend ein Tattoo, und zwar an einer so exponierten Stelle, die jedes Aber im Keim ersticken würde. Schon einen Tag später zierte ein faustgroßer Totenkopf ihren Nacken, zuerst einfarbig, später auch in kräftigem Grün und mit einer riesigen, roten Mick-Jagger-Zunge. Diese Zunge war bis heute das Ebenbild ihrer eigenen geblieben, die sie allen rauszustrecken pflegte, die irgendwie Zwang auf sie auszuüben begannen.
Als die Eltern endlich bereit waren, ihren Entschluss zu akzeptieren, wuchsen auch ihre Haare wieder und der Totenkopf verschwand unter einem langen blonden Pferdeschwanz. Aus dem ursprünglichen Berufswunsch, der wohl nicht mehr gewesen war als eine Notlösung, wurde bereits während des ersten Semesters eine richtige Berufung, und die mittlerweile wenig rebellische Sonja avancierte zu einer wahren Vorzeigestudentin. So hatte sie am Ende ihrer
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