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Havelwasser (German Edition)

Havelwasser (German Edition)

Titel: Havelwasser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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Nummer drei. Er lag mit Mull in Mund und Nase und mit einem riesigen Schnitt über den Hals. Zu Lebzeiten hieß er Gutendorf.

26
    An der Eingangstür des Direktionsgebäudes hielt Verena Becker kurz inne. Sie scheute vor dem Haus zurück wie ein Springpferd vor dem unüberschaubaren Oxer, vielleicht aus Angst vor dem, was für sie noch unsichtbar dahinter lag. Ihre Anspannung legte sich anscheinend auch nicht, als sie die Treppen hinaufgestiegen und vor Manzettis Büro angekommen waren und er mit zwei schwungvollen Handbewegungen aufgeschlossen hatte. Erst als sie sich auf den Stuhl setzte, der wie immer vor dem Schreibtisch stand, wurde sie merklich sicherer und war für das nun nicht mehr zu vermeidende Gespräch bereit.
    „Möchten Sie etwas trinken?“, fragte Manzetti höflich und bot kaltes Mineralwasser oder Orangensaft an. Sie entschied sich für Mineralwasser und ließ sich auch einen Aschenbecher hinstellen.
    „Können wir anfangen, Frau Becker?“
    „Womit?“
    „Ich habe einige Fragen, die im Moment wohl nur Sie beantworten können.“
    „Dann fangen wir an, Herr Manzetti.“ Sie sah sich im Zimmer um, und dann blieb ihr Blick am Schreibtisch hängen. „Sie haben gar keinen Zettel. Schreiben Sie sich nichts auf?“
    „Noch nicht. Es sei denn, Sie haben mir etwas außerordentlich Wichtiges zu erzählen.“
    Sie ging nicht drauf ein, fragte stattdessen: „Ist das ein Bild von Kerstin und den Kindern?“ Sie konnte den Bilderrahmen nur von hinten sehen.
    „Ja.“ Manzetti nahm den Rahmen vom Schreibtisch; hielt ihn in ihre Richtung, ohne ihn allerdings loszulassen.
    „Schön“, sagte sie lächelnd. „Und das sind Ihre Eltern?“
    „Nein, das ist quasi so etwas wie meine Großfamilie. Es sind mein Patenonkel und seine Frau sowie unsere beiden Mädchen, und Kerstin kennen Sie ja.“ Manzetti war stolz auf das Foto und zog es dichter an seinen Körper heran. Es hatte für ihn den Status von etwas Heiligem. Die Berührung durch fremde Hände käme dem Eindringen in seinen Intimbereich oder einer Art Entweihung gleich, und das galt es in jeder Lebenslage zu verhindern.
    „Das ist mir leider verwehrt geblieben.“
    „Sie meinen Kinder?“
    „Ja.“
    „Lag das an Ihrer Beziehung, Ihrem Beruf, oder hatte es andere Gründe?“ Manzetti kam der zufällige Schwenk sehr gelegen, konnte er doch so ganz geschickt eine Vertrautheit herstellen und musste nicht mit der Tür ins Haus fallen.
    „Wohl einiges davon. Martin wollte keine Kinder, und ich kann auch gar keine bekommen.“
    „Für eine Ärztin hört sich das sehr endgültig an.“
    Sie schaute auf ihre Füße und dann wieder in Manzettis Augen. „Sie meinen, weil die Medizin heute schon Wunder vollbringen kann?“
    „So in etwa.“
    „Aber eine Geburt setzt noch immer das Vorhandensein einer Gebärmutter voraus, und die habe ich nicht mehr, Herr Manzetti.“
    Der nickte verstehend.
    „Würden Sie bitte Ihre Stereoanlage anschalten? Natürlich nur, wenn das bei einem Verhör erlaubt ist.“
    Manzetti stand auf und ging zu der kleinen Anlage hinüber. „Es ist erlaubt.“ Er nahm einige CDs in die Hand. „Was möchten Sie hören?“
    „Was haben Sie denn im Angebot? Vielleicht nicht unbedingt Eros Ramazotti.“
    „Puccini, Vivaldi oder Beethoven?“, fragte er, ohne ihre Anspielung zu beachten, und breitete die drei CD-Hüllen wie einen Fächer vor seinem Gesicht aus.
    „Vivaldi. Vivaldi ist gut. Ich nehme an Die vier Jahreszeiten ?“
    „Die habe ich auch.“ Manzetti nahm eine andere CD vom Stapel.
    „Wer spielt?“, wollte sie nun wissen, und Manzetti musste von der Hülle ablesen.
    „English Chamber Orchestra unter der Leitung von Henryk Szeryng.“
    „Aha. Würden Sie bitte mit dem Herbst beginnen“, bat sie mit dem Augenaufschlag eines kleinen Mädchens in Erwartung schöner Geschenke und knetete ihre Hände.
    „Sie mögen den Herbst?“
    „Ja. Sowohl bei Vivaldi als auch in der Natur. La caccia heißt der Teil des Herbstes, der mir am besten gefällt. Was bedeutet das eigentlich?“
    „Caccia ist die Jagd“, übersetzte Manzetti, obwohl er das Gefühl hatte, dass sie seiner Hilfe nicht bedurfte.
    „Dieser Teil hat so etwas Nervöses, etwas von dem wirklichen Herbst draußen, wenn die Blätter fallen und durch den Wind in die Höhe gepeitscht werden. Finden Sie nicht auch? Alles vergeht und macht nach einer gewissen Pause Platz für Neues.“
    „Ich mag lieber den Frühling“, entgegnete Manzetti und setzte sich wieder an

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