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Havelwasser (German Edition)

Havelwasser (German Edition)

Titel: Havelwasser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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seinen Schreibtisch, während die ersten Töne allegro erklangen.
    „Wer war die Tote im Tierpark?“
    „Frau Dr. Kelterer. Eine Studienkollegin von früher. Sie arbeitete im Berliner Zoo, und wir vertraten uns hin und wieder gegenseitig.“
    „Und wie kam es dieses Mal dazu?“
    „Weil ich sie gefragt habe. Ursprünglich wollte ich mich selbst um die Geburt unseres kleinen Panzernashorns kümmern, aber dann ging es mir plötzlich nicht so gut, und ich musste das Bett hüten. Katja sprang freundlicherweise sofort ein.“
    „Was hatten Sie denn, dass Sie am Nachmittag noch mit mir telefonieren konnten, abends dann vollkommen unpässlich waren und heute wieder fit wie ein Turnschuh sind?“
    „Haben, Herr Manzetti. Nicht hatten. Ich habe Krebs. Im Endstadium, und ich vertrage die Chemo nicht so gut.“
    „Entschuldigung. Das wusste ich nicht.“
    „Woher auch? Aber entschuldigen müssen Sie sich auch nicht. Wofür denn? Die Menschen sollten lieber lernen, mit dieser Krankheit umzugehen, als sie immer nur zu tabuisieren, denn sie gehört mittlerweile zu unserem Alltag wie Husten und Schnupfen, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht ansteckend ist, dafür aber vom Geruch des Todes begleitet wird, und dass man das Rauschen des Styx schon hört. Jeder versucht, sich von einem fernzuhalten, wenn es Krebs heißt. Bei grippalen Infekten ist Abstand viel wichtiger. Aber das machen Sie mal der menschlichen Psyche klar.“
    „Das Rauschen des Styx? Was soll das sein?“, stellte er sich unwissend.
    „Griechische Mythologie, Herr Manzetti. Das kennt man doch aber, wenn man eine humanistische Schulbildung genießen durfte, oder?“
    „Ich verstehe“, mimte er jetzt den Wissenden, um ihre Gedanken nicht zu verlieren. „Sie spielen auf die Überfahrt in das Reich des Hades an.“
    „Richtig.“
    „Kam da eigentlich jeder hin, oder war der Hades so etwas wie heute der Himmel?“
    „Sie meinen die unendliche Geschichte von Gut und Böse?“
    „Ja.“
    „Leider kamen da alle hin. Die Griechen unterschieden nicht zwischen Himmel und Hölle. Auch zahlen mussten alle.“
    „Einen Obolus, wenn ich richtig unterrichtet bin?“
    „Das sind Sie. Ihre Bildung muss sich offensichtlich doch nicht verstecken.“
    „Ist das ein Wunder? Ich stamme aus der Toskana, und da liegt bekanntlich auch Pisa.“
    Sie sah ihn mit ihren grünen Augen an und freute sich sichtlich über seine kleine Anspielung auf die miesen Ergebnisse, die das hiesige Schulsystem im europäischen Vergleich ablieferte.
    Dann klopfte es an der Tür, und nach Manzettis lautem „Herein“ trat Frau Berger ins Zimmer.
    „Dürfte ich Sie kurz sprechen, Herr Hauptkommissar?“, fragte die Kollegin des Dauerdienstes und schaute mit einem nicht näher zu definierenden Gesichtsausdruck auf Verena Becker, die so saß, dass die Berger nur ihren Rücken sehen konnte.
    „Ich komme“, sagte Manzetti, stand auf, entschuldigte sich bei Frau Becker, und dann schloss er die Tür hinter sich.
    Als er wieder in sein Büro trat, saß sie noch immer in unveränderter Position, die CD war bereits beim Frühling angekommen, und sie fragte: „Etwas Wichtiges?“, als Manzetti sich wieder an den Schreibtisch setzte.
    „Wenn man so will“, antwortete er in aller Ruhe, denn er hatte jetzt unendlich viel Zeit. Es war Samstag, das Wochenende sowieso verdorben, und mit der eben gewonnenen Information war er in der Lage, seinem Ziel später mit Siebenmeilenstiefeln entgegenzuspringen. Er nahm das immer noch ausgeschaltete Handy aus dem Sakko, das er über die Lehne seines Stuhls hängte. Dann sah er sie an. Sie schaute zwar auch zu ihm, schien aber trotzdem sehr weit weg zu sein. Verena Becker lauschte den Klängen der Musik, und ihre Augen schweiften wie in weiter Ferne umher. Woran mochte sie gerade denken?
    „Das ist der Frühling“, sagte Manzetti und holte sie damit zu ihm zurück.
    „Ja. Aber bei Vivaldi liebe ich mehr den Herbst.“
    „Vorhin sagten Sie, dass Sie den Herbst nicht nur bei Vivaldi, sondern auch in der Natur mehr mögen als den Frühling. La caccia … Die Jagd.“
    „Richtig. Das sagte ich wohl … la caccia“, wiederholte sie wie beiläufig und rang sich ein kleines Lächeln ab.
    „Frau Becker, meine Kollegen sind jetzt fertig in Ihrer Wohnung und haben erstaunliche Dinge gefunden. Damit dürfte Ihre Jagd jetzt wohl beendet sein?“
    Es trat eine lange Pause ein.
    „Frau Becker, sagen Sie mir bitte, wen haben Sie gejagt, und vor allem, hat es sich

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