Havelwasser (German Edition)
denn jetzt war ihm erst einmal alles egal. Er musste zugeben, dass er die Zusammenhänge im Moment nicht mehr durchschaute. Er verließ das Gebäude dieses Mal nicht hinten, sondern durch den vorderen Eingang, der den Besuchern vorbehalten war. Als er hinter sich die schwere Tür ins Schloss fallen hörte und damit wenigstens für einige Stunden mit der Polizei abgeschlossen hatte, fuhr ihm auch noch die Straßenbahn vor der Nase weg. Egal, dachte er. Laufen ist sowieso gesünder.
„Guten Tag, Herr Manzetti“, sagte ein tiefer und warmer Bass.
Als er hochblickte, erkannte er den alten Herrn Becker, erwiderte den Gruß und fragte dann: „Wollen Sie zu mir?“
„Hoffentlich nicht“, dachte er, denn für das Unterbreiten von Todesnachrichten hatte er momentan keine Nerven.
„Eigentlich nicht. Aber vielleicht können Sie mir ja helfen? Wo kann ich denn in Ihrem schönen Gebäude den Diebstahl eines Fahrrads melden?“
„Wenn Sie reinkommen, gleich am Fenster rechts.“
„Danke.“
„Sie können sich jetzt Tausende Fahrräder leisten. Nun erben Sie doch alles.“ Der Gedanke war Manzetti zugeflogen, und er begriff gar nicht, dass er ihn sogar halblaut ausgesprochen hatte.
„Wie bitte?“, fragte Becker und hielt Manzettis Arm fest. Dem tat seine dämliche Bemerkung sofort leid.
„Nichts, Herr Becker. Ich hatte nur einen anstrengenden Tag und mit mir selbst geredet.“
Aber der Mann ließ nicht locker. „Von wem erbe ich alles?“
Manzetti sah sich Hilfe suchend um. „Hat man denn noch nicht mit Ihnen gesprochen?“
„Worüber denn?“
„Über Ihre Schwiegertochter.“
„Wieso? Was ist mit ihr? Die schippert über’n Breitlingsee.“
„Sicherlich nicht mehr, Herr Becker.“
„Na gut. Dann eben in zehn Minuten.“
Jetzt wurde es Manzetti wirklich zu viel, er verlor die Kontrolle und schrie: „Nein, auch nicht in zehn Minuten.“
„Was haben Sie denn? Ihr älterer Kollege hat mehr Ruhe, oder?“
„Hören Sie auf! Hören Sie endlich auf“, stammelte Manzetti. „Ihre Schwiegertochter ist tot. Sie ist tot, ermordet.“ Seine Augen hefteten sich an Becker. Sie suchten Halt.
Becker ging kopfschüttelnd die Stufen zum Direktionsgebäude hinauf, drehte sich aber noch einmal um. „Tot ist sie sicher nicht. Auch wenn ich ihr das wünsche. Vor fünf Minuten ist sie mit ihrem Boot direkt unter mir hindurchgefahren.“
„Was?“ Manzetti drohte jetzt umzufallen.
„Ich stand auf der Jahrtausendbrücke, und sie fuhr mit ihrem Bayliner unter mir in Richtung Breitling.“
Manzetti rannte auf Becker zu und schob ihn ins Gebäude.
Dreißig Minuten später starteten ein Hubschrauber und ein Spezialeinsatzkommando aus Potsdam in Richtung Brandenburg.
Herr Becker berichtete, dass sein Sohn draußen am Buhnenhaus ein einsames Bootshaus besessen hatte und dort auch das Boot lag. Eben jener Bayliner mit Kabine im Vorschiff. Und damit war seine Schwiegertochter nun unterwegs, hatte ihn oben auf der Brücke aber wohl nicht gesehen.
Dann wurde er zu ihrem Lebenslauf befragt, und er erzählte das, was er wusste. Von ihrem Vater, der ein sehr netter, aber kein sehr mutiger Mann gewesen war.
„Wie kam die Familie nach Afrika? Das war doch für die Verhältnisse in der DDR alles andere als normal.“
„Ja, das ist richtig“, sagte Becker. „Aber wie ich es schon sagte: Ihr Vater war kein mutiger Mann. Klug war er, sehr klug sogar, und deshalb wollte er auch, dass seine Kinder woanders aufwuchsen, und meldete sich für ein Projekt, das man heute der Entwicklungshilfe zurechnen würde. So kamen sie legal aus der DDR raus, und er umschiffte für sich und seine Familie die Repressalien, denen sie ausgesetzt gewesen wären, falls er einen Ausreiseantrag gestellt hätte.“
„Und so kamen sie nach Namibia?“
„Nicht sofort. Sie gingen nach Angola, und von da wurde ihr Vater erst nach der Unabhängigkeit Namibias abberufen, um in dem südlichen Nachbarland zu helfen.“
„Was hat ihr Vater denn beruflich gemacht?“
„Er war in der Landwirtschaft tätig und verstand auch etwas von Melioration.“
„Wovon?“
„Von Melioration“, wiederholte er. „Nie davon gehört? Das bedeutet so viel wie Bodenverbesserung. Etwas, worüber Sie in Italien nicht so dringend nachdenken müssen, was aber für die Bauern in anderen Regionen dieser Welt überlebenswichtig ist, um auch nur halbwegs an die Ernteerträge des Mittelmeerraumes heranzukommen.“
„Und weiter?“ Manzetti drängelte, denn er hatte
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