Havenhurst - Haus meiner Ahnen
Jake.
Sofort schob Ian seinen Stuhl zurück und stand auf, um in den Stall zu gehen.
„Nicht nötig“, brummte Jake. „Ist nur eine Druckstelle.“
★
Als Elizabeth mit der Morgenwäsche fertig war, hörte sie die Männerstimmen von unten her. Sie wickelte sich in ein dünnes Trockentuch und ging zu den Reisetruhen, die ihr unfreiwilliger Gastgeber heute morgen zusammen mit zwei großen Wassereimern hinaufgetragen und vor die Zimmertür gestellt hatte. Leider waren die Kleidungsstücke, die die Truhe enthielten, für einen Ort wie diesen hier sämtlich ein bißchen zu elegant und zu empfindlich.
Elizabeth wählte das am wenigsten auffällige Gewand aus, ein weißes Gartenkleid mit hoher Taille. Ein breites Band gestickter Rosenranken zierte den Rocksaum und die enganliegenden Manschetten der weitgeschnittenen Ärmel. Zu diesem Gewand gehörte ein weißes, ebenfalls mit Rosenranken besticktes Haarband, von dem sie aber nicht wußte, wie sie es tragen sollte, wenn überhaupt.
Sie streifte sich das Kleid über, glättete es über ihrer Taille und brauchte mehrere Minuten, bis sie die lange Reihe winziger Knöpfe an ihrem Rücken geschlossen hatte. Sie drehte sich vor dem kleinen Spiegel über dem Waschtisch und biß sich nervös auf die Lippe. Das rundausgeschnittene Oberteil, das einmal recht züchtig gewirkt hatte, schmiegte sich jetzt fest um ihre inzwischen reiferen Formen.
„Wundervoll“, bemerkte sie spöttisch, schnitt sich selbst eine Grimasse und versuchte, den Ausschnitt höher heraufzuziehen, nur leider rutschte er immer wieder hinunter, und so gab sie es schließlich auf. „Während der Saison hat man noch viel tiefere Ausschnitte als diesen hier getragen“, verteidigte sie sich vor ihrem Spiegelbild.
Sie ging zum Bett, nahm das bestickte Band auf und überlegte sich, was sie mit ihrem Haar anstellen sollte. Als sie dieses Gewand in London zuletzt getragen hatte, hatte Berta ihr das Band durch die Locken gezogen. Auf Havenhurst jedoch trug Elizabeth ihr schweres Haar nicht mehr zu kunstvollen Frisuren aufgesteckt, sondern ließ es in natürlichen Wellen einfach über den Rücken fließen.
Jetzt nahm sie ihren Kamm zur Hand, zog sich einen Mittelscheitel und faßte das Haar im Nacken mit dem rosenbestickten Band zusammen, das sie zu einer einfachen Schleife schlang. Anschließend zupfte sie ein paar Strähnchen heraus, damit die Frisur nicht zu streng wirkte. Sie trat ein wenig vom Spiegel zurück, betrachtete ihr Bild und seufzte.
Sie sah weder, wie hell ihre großen grünen Augen leuchteten, noch sah sie, wie rosig und gesund ihre Haut schimmerte. Statt die Schönheit ihres Gesichts zu erkennen, von dem Jake gesagt hatte, daß Männer davon träumten, suchte sie nur nach Makeln. Da sie jedoch keine fand, verlor sie das Interesse an ihrem Aussehen.
Sie setzte sich aufs Bett und ließ sich noch einmal die Ereignisse des vergangenen Abends durch den Kopf gehen.
Was sie am meisten beunruhigte, war eigentlich eine Kleinigkeit, nämlich Ians Behauptung, er habe eine Note von ihr erhalten und sei daraufhin in das Gewächshaus gegangen. Natürlich war es absolut möglich, daß er gelogen hatte, um vor Mr. Wiley nicht in einem schlechten Licht dazustehen. Weil sie jedoch sehr genau wußte, daß Ian Thornton ein ausgesprochen rüder und selbstherrlicher Mensch war, konnte sie sich nicht recht vorstellen, weshalb er sich die Mühe machen sollte, seinem Freund hier etwas vorzulügen.
Sie schloß die Augen und versuchte, sich genau an das zu erinnern, was er bei seinem Eintreten an jenem Abend im Gewächshaus gesagt hatte. Irgend so etwas wie: „Wen haben Sie denn nach dieser Note erwartet? Den Kronprinzen?“
Damals hatte sie gedacht, er spräche von der Note, die er ihr geschickt hatte; er aber behauptete jetzt, er habe eine Note von ihr erhalten. Und er hatte über ihre Handschrift gelästert, von der bis jetzt alle ihre Lehrer gesagt hatten, sie sei „gelehrtenhaft und gediegen — eine Zierde für einen Oxford-Gentleman“.
Wie konnte Ian Thornton Bemerkungen über ihre Handschrift machen, wenn er nicht wirklich der Meinung war, etwas Schriftliches von ihr erhalten zu haben?
Vielleicht war er ja tatsächlich verrückt, doch das glaubte Elizabeth eigentlich nicht. Allerdings war es ihr in Dingen, die ihn betrafen, bisher nie gelungen, die Wahrheit zu erkennen. Das war ja auch kein Wunder. Sogar jetzt, da sie doch älter und hoffentlich auch klüger als damals war, fiel ihr das klare Denken
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