Havenhurst - Haus meiner Ahnen
schon unterwegs. Das hieß, er war eine Stunde überfällig — und mit ihm die Antwort des Herzogs.
Der Gastwirt erschien in der Tür. „Mein Junge ist noch nicht zurück. Falls er innerhalb der nächsten Stunde nicht eintrifft, werde ich Ihnen Extrakosten berechnen müssen, Mr. Thornton.“
Ian warf dem Gastwirt einen Blick über die Schulter hinweg zu und hatte nicht üble Lust, dem Mann den Kopf abzureißen. „Lassen Sie mein Pferd satteln“, befahl er nur, obwohl er noch nicht wußte, was er eigentlich tun wollte. Im Augenblick jedenfalls konnte er kaum seine Wut darüber beherrschen, von seinem Großvater offensichtlich wie ein armer Bittsteller behandelt zu werden.
Der Gastwirt folgte seinen eigenen Überlegungen. Er hatte von Mr. Thornton keine Vorauszahlung verlangt. Wenn Stanhope Park den Mann jedoch allem Anschein nach ignorierte, dann konnte es mit dessen Kreditwürdigkeit nicht so weit her sein.
„Es ist wegen Ihrer Rechnung, Herr“, sagte er zögernd. „Ich würde sie jetzt gern beglichen haben.“ Er staunte nicht schlecht, als sein Gast daraufhin eine dicke Rolle Geldscheine aus der Tasche zog und genug hinblätterte, um sämtliche Kosten restlos zu decken.
Ian wartete noch eine halbe Stunde und war dann davon überzeugt, daß der Duke of Stanhope nichts mehr von sich würde hören lassen. Wütend entschloß er sich, nach London zu reiten und zu versuchen, sich Julius Camerons Gunst dann eben zu erkaufen.
Er verließ den Privatsalon. Während er den Schankraum durchquerte, streifte er sich die Reithandschuhe über und sah deshalb nicht, daß die Blicke der zechenden Bauern staunend auf den Eingang gerichtet waren.
Der Gastwirt, der Ian noch vor Minuten so angesehen hatte, als würde dieser das kostbare Tafelzinn stehlen, starrte ihn jetzt offenen Mundes an. „Herr!“ rief er und deutete mit einer ausholenden Geste zur Tür hin.
Ian blickte von seinen Handschuhknöpfen auf, sah den sich ehrfürchtig verbeugenden Gastwirt und dann die zwei Diener und den Kutscher in grün-goldener Livree, die bei der Tür Haltung angenommen hatten.
Jetzt trat der Kutscher vor, räusperte sich und wiederholte mit feierlicher Stimme, was der Herzog ihm aufgetragen hatte: „Seine Gnaden, der Duke of Stanhope, befahl mir, dem Marquess of Kensington seine herzlichsten Grüße zu übermitteln und ihm auszurichten, daß er von Seiner Gnaden mit größter Freude in Stanhope Park erwartet wird.“
Indem er seinen Kutscher beauftragte, Mr. Thornton als den Marquess of Kensington anzureden, hatte der alte Herzog sowohl letzteren als auch alle anderen in dem Gasthof Anwesenden öffentlich davon informiert, daß dieser Titel von jetzt an Ian Thornton gehörte.
Daß sein Großvater sich in dieser Beziehung offensichtlich sehr siegessicher fühlte, ärgerte Ian. Er nickte dem Kutscher kurz zu und trat dann an ihm vorbei aus der Schankstube. Das Fahrzeug, das draußen auf ihn wartete, war ein weiterer Beweis für des Herzogs Absicht, Ians Heimkehr möge sich angemessen stilvoll vollziehen. Statt eines offenen Wagens hatte der Duke eine geschlossene vierspännige Prunkkarosse geschickt.
Als die Kutsche später durch das Tor zu dem Anwesen rollte, das der Ahnensitz seines Vaters bis zu dessen Heirat gewesen war, beschlich Ian ein vollkommen uncharakteristisches Heimweh und eine schon wesentlich charakteristischere Wut auf den tyrannischen Aristokraten, der seinen eigenen Sohn enterbt und davongejagt hatte.
Die Kutsche hielt vor den Eingangsstufen an, und noch bevor Ian ausgestiegen war, wurde bereits die Haustür von einem sehr alten und sehr dünnen, schwarzgekleideten Butler geöffnet.
Ians Vater hatte zwar sehr selten über seinen eigenen Vater und die verlorenen Besitztümer gesprochen, wohl aber über diejenigen Bediensteten, die er in Stanhope Park am liebsten gemocht hatte, und der alte Mann dort an der Eingangstür mußte Ormsley sein.
Dieser hatte Ians damals zehnjährigen Vater auf einem Heuboden mit Stanhopes feinstem französischen Weinbrand erwischt. Ormsley hatte die Schuld an dem fehlenden Cognac inklusive der „kostbaren Karaffe“ auf sich genommen und behauptet, er sei ein heimlicher Trinker und habe die Karaffe im Rausch vermutlich verlegt.
Jetzt war der alte Butler sichtlich den Tränen nahe, als er Ian beinahe liebevoll entgegenschaute. „Guten Tag, Mylord“, sagte er dennoch so gefaßt wie möglich.
„Guten Tag, Ormsley“, grüßte Ian. „Ich darf doch annehmen, Sie haben inzwischen
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