Havenhurst - Haus meiner Ahnen
erklärte der Arzt. „Das greift sein Herz an. Jetzt schläft er. Sie können in einer Stunde zu ihm hinaufgehen.“ Damit verabschiedete er sich.
Im Flur warteten Hortense und Charity. „Ich gehe jetzt hinauf und sehe nach ihm“, erklärte Hortense. „Charity, langweile Ian nicht mit deinem Geschwätz. Und mische dich in nichts ein!“ warnte sie streng.
Von Charity interessiert beobachtet, ging Ian im Zimmer auf und ab. Das einzige, was er nicht hatte, war Zeit; wenn es jedoch so weiterging, dann würde Elizabeth ihr erstes Kind zur Taufe tragen, bevor er in London eintraf. Und zuvor mußte er noch mit ihrem Onkel verhandeln und die unangenehme Pflicht hinter sich bringen, mit Christinas Vater über die Auflösung der Verlobung zu sprechen.
„Du verläßt uns doch heute nicht schon wieder, mein lieber Junge?“ fragte Charity unvermittelt.
Ian deutete eine Verbeugung an. „Doch, ich fürchte, das muß ich, Ma’am.“
„Das wird ihm das Herz brechen.“
Ian bezweifelte, daß der Duke of Stanhope überhaupt ein Herz hatte. „Er wird es überleben.“
Die alte Dame betrachtete ihn so unverwandt, daß Ian sich fragte, ob die Frau seine Gedanken zu lesen versuchte oder einfach nur ein bißchen schwachsinnig war. Er entschied sich für das letztere, als sie sich plötzlich erhob und darauf bestand, daß er sich die Zeichnung eines Pfauen anschaute, die sein Vater als kleiner Junge angefertigt hatte.
„Vielleicht ein andermal“, wehrte er ab.
Sie neigte den Kopf wie ein Vogel zur Seite. „Ich glaube, du solltest sie dir wirklich jetzt ansehen.“
Seufzend gab Ian nach; so würde wenigstens die Zeit schneller vergehen.
Charity führte ihn in einen Raum, der anscheinend das private Arbeitszimmer des Herzogs war. Darin angekommen, legte sie den Finger an die Lippen und dachte anscheinend konzentriert nach. „Ja, wo war doch gleich diese Zeichnung?“ Sie schaute sich ratlos um. „Ach ja, jetzt weiß ich es wieder.“
Sie trippelte zum Schreibtisch und tastete unter der mittleren Schublade nach einer versteckten Verriegelung. „Ja, wo ist denn nur... ach, hier ist das Schloß ja!“ rief sie, und schon glitt der linke Schubkasten heraus. „Du findest die Zeichnung hier drinnen“, erläuterte sie. „Du brauchst nur zwischen den Papieren zu suchen.“
Ian weigerte sich, in eines anderen Mannes privaten Schreibtisch einzudringen, doch Charity hatte solche Skrupel nicht. Sie hob einen dicken Papierstapel heraus und legte ihn auf die Tischplatte. „Meine Augen sind nicht mehr die besten“, sagte sie. „Entdeckst du zwischen diesen Papieren die Zeichnung eines Pfauen?“
Ungeduldig warf Ian einen Blick auf die ausgebreiteten Papiere und erstarrte. Unzählige Zeichnungen, die ihn selbst in allen möglichen Posen und in jedem Alter abbildeten, lagen da — ein Beweis dafür, daß sein Großvater die Entwicklung seines Enkelsohns fast seit dessen Geburt hatte verfolgen und festhalten lassen.
„Hast du inzwischen einen Vogel gefunden, mein lieber Junge?“ erkundigte sich Charity und beobachtete Ian, an dessen Wange ein Muskel zu zucken begann.
„Nein.“
„Dann muß sich die Zeichnung im Schulzimmer befinden. Natürlich! Zu dumm aber auch von mir! Hortense würde sagen, das sähe mir wieder einmal ähnlich, einen solchen törichten Fehler zu machen.“
„Ich hingegen würde sagen, Sie sind so schlau wie eine Füchsin, Ma’am.“
Sie lächelte verschmitzt. „Sage ihr nichts davon, nein? Sie erfreut sich doch so sehr an dem Gedanken, daß sie die Schlauere ist.“
„Wie ist es zu diesen Zeichnungen gekommen?“
„Viele von ihnen hat eine Frau aus eurer Nachbarschaft angefertigt. Später hat Edward einen Zeichner engagiert, wenn er wußte, wo du dich wann aufhieltest. Ja, ich werde dich jetzt hier allein lassen. Es ist so schön ruhig hier.“ Sie wollte zweifellos, daß er sich auch die restlichen Unterlagen noch anschaute.
Lange zögerte Ian. Dann setzte er sich langsam in den Sessel und sah sich die vertraulichen Berichte über seine eigene Person an. Sie stammten sämtlich von einem gewissen Mr. Edgar Norwich, und als Ian den dicken Papierstapel durchging, wurde aus dem anfänglichen Zorn auf seinen Großvater Erheiterung.
Jeder einzelne Brief des Detektivs begann mit einigen Sätzen, aus denen hervorging, daß der Herzog den Mann wieder einmal getadelt hatte, weil dieser keine ausreichend detaillierten Berichte geliefert hatte.
Das erste Schreiben begann mit den Worten:
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