Hawaii
Für ihn war es so sehr mit Liebe erfüllt, daß er seinen Kopf sinken ließ und weinte. In dieser Haltung fanden ihn die jüngsten Geschwister und führten die ganze Familie heraus, um ihn willkommen zu heißen. Kaum hatten sie sich in dem schmucklosen Wohnzimmer versammelt, als auch schon Gideon Hale, der stolz darauf war, einen ordinierten Pfarrer zum Sohn zu haben, vorschlug: »Abner, willst du nicht deine erste Andacht in diesem Hause halten?« Und Abner wählte einen Vers aus dem Leviticus: »Da soll ein jeglicher bei euch wieder zu seiner Habe und zu seinem Geschlecht kommen«, und schloß eine kleine Predigt daran. Die Familie war begeistert; aber als der Gottesdienst vorüber war, nahm die hochgewachsene, schüchterne Esther ihren Bruder beiseite und flüsterte: »Es ist etwas Wunderbares geschehen, Abner.«
»Vater hat es mir schon erzählt, Esther. Ich bin tief beglückt, daß du in den Stand der Gnade getreten bist.«
»Es wäre Eitelkeit, wenn ich davon sprechen würde«, sagte das eifrige Mädchen und errötete. »Das habe ich nicht gemeint.«
»Was denn?«
»Ich habe einen Brief bekommen!«
»Von wem?«
»Aus Walpole in New Hampshire.«
Jetzt wurde Abner rot, und obwohl er nicht ein unziemliches Interesse an den Tag legen wollte, mußte er doch zögernd fragen: »Von..« Aber er konnte sich nicht überwinden, den
Namen auszusprechen, den er noch vor niemanden erwähnt hatte. Es erschien ihm so unwahrscheinlich, überhaupt etwas von Jerusha Bromley zu wissen - ganz zu schweigen, daß er im Begriff war, um ihre Hand anzuhalten -, daß er fürchtete, ihren Namen zu entweihen, wenn er ihn aussprach.
Esther Hale ergriff ihren Bruder bei beiden Händen und versicherte ihm: »Sie ist eine der süßesten, gütigsten, sanftesten und christlichsten jungen Frauen in ganz Neu-England. Sie nennt mich Schwester und bittet mich, sie in mein Gebet einzuschließen. «
»Darf ich den Brief sehen?« fragte Abner.
»O nein! Nein!« protestierte Esther energisch. »Er wurde mir vertraulich gesandt. Jerusha sagte... Ist das nicht ein lieber Name, Abner? Es war der Name von Jothams Mutter im Buch der Könige. Sie sagte: alles ginge so rasch, daß sie sich einer vertrauenswürdigen Freundin eröffnen müsse. Du wärst erstaunt über das, was sie mich alles fragte.«
»Worüber?« fragte Abner.
»Über dich.«
»Was hast du geantwortet?«
»Ich schrieb ihr einen achtzehn Seiten langen Brief, und obwohl es ein geheimer Brief zwischen mir und meiner Schwester war...«
»Deiner Schwester?«
»Ja, Abner. Ich bin nach der Art ihres Briefes fest davon überzeugt, daß sie dich heiraten will.« Esther lächelte über ihren verwirrten Bruder und fügte hinzu: »Obwohl es also ein geheimer Brief war, habe ich doch von einer der achtzehn Seiten eine Abschrift gemacht.«
»Warum?«
»Weil ich auf dieser Seite all deine Fehler aufgezählt habe, so wie eine junge Frau sie einschätzen würde; und in geschwisterlicher Liebe möchte ich dir gerne diese wichtige Seite geben.«
»Ich würde mich darüber freuen«, sagte Abner schwach, nahm das mit Liebe verfaßte und mit schrägen Schriftzügen bedeckte Blatt mit auf sein Zimmer und begann zu lesen:
»Liebste Jerusha, die ich, wie ich hoffe, einmal Schwester nennen darf, bis hierher habe ich Dir nur von den Tugenden meines Bruders berichtet. Sie sind zahlreich, und ich habe sie nicht übertrieben, denn, wie Du Dir denken kannst, gibt das harmonische Zusammenleben im Schoße einer großen fest gefügten Familie auch dem trägsten Verstand reichlich Gelegenheit, bis in die geheimsten Schlupfwinkel des Geistes und der Gefühle eines andern vorzudringen. Für den Tag also, da wir uns als wahre Schwestern begegnen werden, und in dem Wunsch, daß Du mich Dir gegenüber als völlig aufrichtig erachten mögest gemäß dem Grundsatz, wie ihn uns unser Herr im ersten Epheser-Brief einschärft: >Darum leget die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind<, muß ich Dir auch von den Schwächen meines frommen und sanften Bruders erzählen. Zuerst, Jerusha, ist er nicht bewandert in schönen Umgangsformen, und Du wirst enttäuscht sein, wenn Du bei Deinem Ehemann vor allem darauf Wert legst. Daß er lernen könnte, anmutiger zu sein, dessen bin ich gewiß, und vielleicht wird er unter Deiner geduldigen Leitung sogar noch einmal zu einem kultivierten Mann, was ich aber bezweifle. Er ist grob und ehrlich. Er ist rücksichtslos
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