Hawkings neues Universum
Regionen in unserer Nähe befinden – vielleicht nur wenige Lichtjahre entfernt. Theoretisch könnten sich dort aus Scherben Tassen bilden und Säuglinge könnten zurück in den Mutterbauch verschwinden – freilich nur aus unserer Perspektive betrachtet, und eine Beobachtung solcher Vorgänge wird wohl nie möglich sein.
„Die Gravitation dieser Orte ließe sich messen. Solche zeitverkehrte Materie würde alle Eigenschaften der unsichtbaren oder Dunklen Materie haben, von der wir annehmen, dass sie den Großteil der Masse unseres Universums ausmacht“, spekuliert Schulman. Denn wenn die Materie aus einer fernen Zukunft stammt, wären dort längst alle Sterne erloschen. Denkbar wäre auch, dass die Dunkle Materie aus einer Kollision zwischen normaler Materie und ausgebrannten kosmischen Leichen einer fernen Zukunft entstand und gar keinen Zeitpfeil mehr besitzt.
„Die Dinge, die heute geschehen, könnten von den Randbedingungen am Ende des Universums beeinflusst werden“, sinniert Schulman und stellt damit unser gewöhnliches Verständnis von Ursache und Wirkung auf die Probe. „Ob es den umgekehrten Zeitpfeil in unserem Universum gibt, müssen Beobachtungen zeigen. Ich sage nur, dass es von der Theorie her nicht ausgeschlossen ist.“
Zurück aus der Zukunft
Eine Möglichkeit, der verkehrten Zeit auf die Spur zu kommen, hat John Wheeler bereits in den siebziger Jahren vorgeschlagen: Zerfallsmessungen radioaktiver Elemente mit extrem langen Halbwertszeiten. Dieser Zerfall geschieht normalerweise exponentiell. Aber wenn die Zeit künftig die Richtung wechselt, müsste der Zerfallsmodus schon heute anders sein, weil die Zerfallsprodukte aus der Zukunft „zurückkämen“. Im Prinzip würde es also ausreichen, einige Kilogramm von Elementen wie Rhenium-187 und Samarium-147 zu inspizieren, deren Halbwertszeit in der Größenordnung von 100 Milliarden Jahren liegt, um Anzeichen dafür zu entdecken, dass unser Universum einmal kollabieren wird. Man könnte dann Kosmologie betreiben, ohne aus dem Fenster zu sehen. Schulman ist allerdings skeptisch: Vermutlich reichen selbst alle Rhenium- und Samarium-Atome in der Milchstraße nicht aus, um den Effekt im Lauf eines Menschenlebens zu messen. Außerdem könnten quantenphysikalische Feinheiten – etwa die Dauer eines Quantensprungs – die Prognosen zunichte machen.
„Ich denke aber, dass andere Prozesse aufschlussreich wären, die wirklich langsam sind und weite Bereiche des Universums umfassen“, meint Schulman. „Dazu muss man freilich aus dem Fenster schauen.“ Der Physiker denkt dabei an Galaxien und Galaxienhaufen: Deren Verteilung und Bewegung hängt empfindlich von den Anfangsbedingungen im frühen Universum ab und kann in großen Supercomputern inzwischen sehr detailliert berechnet werden. Wenn sich Theorie und Beobachtungen nicht in Einklang bringen lassen, wäre dies vielleicht ein Indiz für Einflüsse aus der Zukunft. Die großräumigen Strukturen im Universum hätten gleichsam eine Erinnerung an die Zukunft. Diese weitreichenden Schlussfolgerungen wurden von Physikern sehr interessiert, aber auch zwiespältig aufgenommen. „Das ist eine coole Sache“, kommentiert Max Tegmark. „Schulman hat gezeigt, dass die Konsistenz eines Modells mit zwei simultanen Zeitpfeilen mit recht einfachen Mitteln erforscht werden kann“, meint Amos Ori, Professor am Israel Institute of Technology (Technion), beeindruckt. Und David T. Pegg von der Griffith University im australischen Brisbane sagt: „Ich sehe keine offensichtlichen Irrtümer in den Rechnungen. Schulman hat seine Sache überzeugend vorgetragen. Und ich bin bereit, das Modell zu akzeptieren, bis es gegenteilige Indizien gibt.“
Paul Davies bezweifelt dagegen, ob Schulmans Rechnungen ausschließen können, dass geringe Wechselwirkungen mit der Umgebung den verkehrten Zeitpfeil intakt lassen. Auch Claus Kiefer, Physik-Professor an der Universität Köln, ist skeptisch: „Der Erfolg einer neuen Idee hängt davon ab, ob man sie generell durch Experimente prüfen kann, und ob sie nicht nur irrelevante Spezialfälle behandelt. Hier bleibt Schulmans Szenario notgedrungen Stückwerk.“
H. Dieter Zeh, emeritierter Physik-Professor an der Universität Heidelberg, und vielleicht der renommierteste Zeitpfeil-Experte weltweit, hegt ebenfalls Zweifel. „Die entscheidende Frage ist, ob Schulmans Beispiele für unser Universum realistisch sind. Er konnte seine Lösungen nur mit Versuch und Irrtum finden, durch
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