Hawkings neues Universum
Kontraktionsphase noch erleben, eine Fülle Science-Fiction-artiger Möglichkeiten eröffnen. Würden sie beobachten, wie sich die Scherben von Tassen auf dem Fußboden zusammenfügen und auf den Tisch zurückspringen? Würden sie sich an die Kurse von morgen erinnern und ein Vermögen an der Börse verdienen können?“
Kollision der Zeiten
Doch so grotesk wäre dieses Szenario gar nicht. „Es ist einfach eine Beschreibung unserer gegenwärtigen Welt in einer zeitverkehrten Sprache und überhaupt nicht verwunderlich. Der Unterschied zu unserer Erfahrung ist bloß semantisch, nicht physikalisch“, sagt Paul Davies. „Rätselhaft ist, dass unsere Vorwärtszeit sich in eine Rückwärtszeit entwickeln kann – oder umgekehrt, denn die Situation ist symmetrisch.“ Darin liegt die eigentliche Provokation von Golds Hypothese – aber zugleich eine Chance, die Zeitrichtung zu erklären.
„Die Expansion oder Kontraktion des Weltraums ist für den Zeitpfeil verantwortlich“, meint Schulman, dessen Arbeit in direkter Tradition von Gold steht. „Kaffee kühlt ab, weil der Quasar 3C 273 sich immer weiter entfernt“, spitzt er die Hypothese zu und meint damit dieselbe Ursache beider Prozesse. Entscheidend dabei sei, dass sich die Zeitrichtung nur in der makroskopischen Welt bemerkbar macht, nicht in der Welt der Atome. „Der Zeitpfeil ist kein mikroskopischer Parameter.“
Doch wie kann sich ein Zeitpfeil umdrehen? Was würde geschehen, wenn der Weltraum sich zu seiner maximalen Größe ausgedehnt hätte und unter dem Schwerkraft-Einfluss der Materie wieder zu kontrahieren begönne?
„Das hängt davon ab, wie viel Zeit zwischen Ur- und Endknall vergeht“, sagt Schulman. „Wenn das Intervall groß genug ist, so dass sich in der Mitte ein thermodynamisches Gleichgewicht einstellt, existiert kein Zeitpfeil mehr, der sich umkehren könnte.“ Denn dann gäbe es keine makroskopischen Objekte, die ihn anzeigen würden. Doch vermutlich begänne der Weltraum viel früher zu kontrahieren. In jedem Fall werden die Zeiger der Uhren nicht plötzlich anhalten und rückwärts gehen. Man würde subjektiv nicht verkehrt herum leben, sich auf der Toilette Materie einverleiben und sie am Mittagstisch vom Mund auf den Teller legen, immer jünger werden und schließlich im Mutterbauch verschwinden, wie es der britische Schriftsteller Martin Amis in seinem Roman Pfeil der Zeit (1991) eindrucksvoll beschrieben hat. Denn auch das bewusste Erleben würde sich umdrehen, und keiner könnte die veränderte Zeitrichtung bemerken. Selbst der Weltraum schiene sich für Astronomen weiter auszudehnen.
Das sind verblüffende – und manche sagen: unglaubliche – Schlussfolgerungen. Doch was der Alltagserfahrung verborgen bliebe, könnten subtile Phänomene in der Natur doch verraten. Die entscheidende Frage dabei ist, ob das zeitverkehrte Universum der Zukunft – oder jedenfalls einzelne Bereiche davon – gleichsam aus dieser Zukunft durch unsere Gegenwart in unsere Vergangenheit laufen könnte. Mit anderen Worten: Sind Systeme mit entgegengesetzten Zeitpfeilen im selben Raumbereich möglich, können sie sich quasi durchdringen und dabei wechselseitig bemerkbar machen?
„Wenn die Geometrie der Welt symmetrisch wäre, was eine Expansion und schließlich wieder eine Kontraktion bedeutet, dann sehe ich nicht, warum der thermodynamische Zeitpfeil eine unabhängige Asymmetrie mit sich bringen sollte“, sagt Schulman. „Die Symmetrie würde dann für makroskopische Objekte heißen, dass sowohl die Randbedingungen der Vergangenheit als auch die der Zukunft wichtig sind. Einer der beiden Zeitpfeile mag viel deutlicher sichtbar sein – je nachdem, ob man dem Ur- oder Endknall zeitlich näher ist. Aber es ist leicht, sich Systeme vorzustellen, in dem beide eine wichtige Rolle spielen.“
Diese Fragestellung versucht Schulman mit seinen Computersimulationen zu beantworten. „Es kommt darauf an, das Problem korrekt zu definieren. Wenn man den richtigen Kontext hat, zeigt die statistische Physik, dass entgegengesetzte Zeitpfeile tatsächlich miteinander vereinbar sind.“ Das heißt, es könnte zeitverkehrte Inseln geben, deren Zeitrichtung entgegengesetzt zu ihrer Umgebung ist. Schulman schließt aus seinen Berechnungen, dass sie intakt bleiben, wenn sie ausreichend isoliert sind. Schwache Einflüsse von Schwerkraft und Elektromagnetismus würden die gegenläufige Zeitrichtung nicht zerstören. Tatsächlich könnten sich solche zeitverkehrten
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