Hawkings neues Universum
das dahinter gelegene Gebiet zu einem Teil des Universums erklären. Wäre dagegen der Rand des Universums eine Art Riss, eine Region, in der die Raumzeit bis zur Unkenntlichkeit zerstaucht und die Dichte unendlich wäre, hätten wir große Schwierigkeiten, sinnvolle Randbedingungen zu definieren“, schrieb Hawking später.
Daher nahm er kurzerhand an, dass das Universum gar keinen Rand und keine Grenze besitzt. Dieser „Keine-Grenzen-Vorschlag“ („No-Boundary Proposal“) überwindet gleichsam die in der Physik seit Isaac Newton übliche Unterscheidung von Anfangs- oder Randbedingungen einerseits und Naturgesetzen andererseits. Es macht die Randbedingungen gewissermaßen zu einem Teil der Gesetze. Denn eine Quantentheorie der Gravitation eröffnet die Möglichkeit, dass die Raumzeit keine Grenze hat. „Es wäre also gar nicht notwendig, das Verhalten an der Grenze anzugeben“, erläutert Hawking diesen schwierigen Gedanken. „Es gäbe keine Singularitäten, an denen die Naturgesetze ihre Gültigkeit einbüßten, und keinen Raumzeitrand, an dem man sich auf Gott oder irgendein neues Gesetz berufen müsste, um die Grenzbedingungen der Raumzeit festzulegen. Man könnte einfach sagen: Die Grenzbedingung des Universums ist, dass es keine Grenze hat. Das Universum wäre völlig in sich abgeschlossen und keinerlei äußeren Einflüssen unterworfen. Es wäre weder erschaffen noch zerstörbar. Es würde einfach SEIN.“
Das ist eine kühne und weitreichende Hypothese. Doch was bedeutet sie genau? Und wie lässt sie sich begründen? Um diese Fragen zu beantworten, muss man etwas ausholen. Hawkings Vorschlag, die von ihm selbst aufgestellten Singularitätstheoreme auszuhebeln und somit den Urknall als Anfang von Allem zu beschreiben und zu erklären, ist raffiniert, aber auch kompliziert. Er macht nämlich einige Voraussetzungen:
Eine bestimmte Deutung der Quantentheorie: die Viele-Historien-Interpretation.
Ein bestimmtes Verfahren zur Berechnung der Wahrscheinlichkeiten dieser Historien: die Pfadintegral-Methode.
Eine spezifische Randbedingung, um die Methode auf das ganze Universum anzuwenden und die Singularität zu vermeiden: die Keine-Grenzen-Bedingung.
Und eine mathematische Operation, um überhaupt sinnvolle Rechnungen ausführen zu können: die imaginäre Zeit.
Also ganz langsam und der Reihe nach!
Das große Rätsel der Quantentheorie
Obwohl seine eigenen Arbeiten zur Quantenphysik 1965 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, lautete Richard Feynmans feste und oft zitierte Überzeugung: „Niemand versteht die Quantentheorie.“ Das liegt vor allem an dem berüchtigten Doppelspalt-Experiment. Es birgt, mit den Worten Feynmans, „das Herz der Quantenmechanik in sich“ und lässt sich „unmöglich, absolut unmöglich auf klassische Weise erklären“. Es „enthält das gesamte Rätsel der Quantenmechanik“, schrieb er 1967. „Welcher Mechanismus steckt dahinter? Niemand weiß es. Niemand kann eine tiefere Erklärung dieses Phänomens geben.“
Und so sieht das Rätsel aus: Tritt Licht durch einen Spalt, wird auf einer Leinwand oder einer Fotoplatte dahinter ein leuchtender Strich abgebildet. Sind zwei parallele Spalte zugleich geöffnet, sollten sich der klassischen Physik zufolge entsprechend zwei Leuchtspuren dahinter ausbilden. Doch in der Quantenphysik ist das Ganze mehr als die Summe der Teile: Anstelle von zwei Leuchtspuren entsteht ein komplexes Interferenzmuster, eine Überlagerung (Superposition). Also verhält sich in diesem Experiment Licht wie Wellen, die einander überlagern – ähnlich wie die Wellen in einem Teich, die entstehen, wenn zwei Steine ins Wasser geworfen werden. Diese Welleneigenschaften des Lichts sind sonderbar, denn Licht besteht andererseits aus Photonen (Lichtteilchen), deren Teilchennatur sich in anderen Experimenten offenbart (beim Photo- und Compton-Effekt oder in elektronischen Photonenzählern). Dasselbe gilt auch für Materie, beispielsweise für Elektronen oder Neutronen – sie bilden im Doppelspalt-Experiment ebenfalls Überlagerungsmuster. Sogar recht große, komplexe Moleküle wie Fullerene (C 60 und C 70 ) konnten inzwischen zur Interferenz gebracht werden.
Das Überlagerungsbild entsteht selbst dann, wenn man einzelne Teilchen, etwa Photonen oder Elektronen, in großen Zeitabständen nacheinander auf den Doppelspalt „tröpfeln“ lässt. Es ist, als „wüssten“ sie, ob beide Spalte offen sind oder nicht – obwohl nach klassischem Verständnis
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