Hawks, John Twelve - Dark River
vorbeizuschauen. Vielleicht konnten Jugger und seine Freunde ihr sagen, ob Gabriel sich noch in der Stadt aufhielt.
Sie überquerte die Themse und lief durch die Langley Lane auf den Bonnington Square zu. Zu dieser späten Stunde waren die Straßen menschenleer, und sie konnte das Flimmern der Fernsehgeräte in den verdunkelten Wohnzimmern sehen. Maya kam an einigen sanierten Terrassenhäusern und einem roten Backsteinbau aus der viktorianischen Epoche vorbei, einer ehemaligen Schule, die zu einem teuren Apartmentkomplex umgebaut worden war. In dieser Umgebung wirkte das Vine House wie ein heruntergekommener alter Mann, der von geschmackvoll gekleideten Bankern und Anwälten umringt wird.
Als Maya die zwei Meter hohe Steinmauer erreicht hatte, die den Garten von Vine House umgab, stieg ihr ein ätzender Gestank in die Nase, der sie an brennenden Müll erinnerte. Der Harlequin blieb stehen und spähte um die Hausecke. Auf dem Bürgersteig war niemand zu sehen, auch saß niemand in dem kleinen Park in der Platzmitte. Die Gegend schien sicher, aber dann bemerkte sie zwei Männer in einem Blumenlieferwagen, die am Ende des Blocks geparkt hatten. Sie bezweifelte, dass irgendjemand um ein Uhr morgens ein Dutzend rote Rosen bestellt hatte.
Der Garten hinter dem Vine House hatte keinen Ausgang zur Langley Lane, deswegen zog Maya sich an der Mauerkante hoch und kletterte hinüber. Der Brandgeruch wurde stärker, doch nirgends konnte sie ein Feuer entdecken. Nur eine Straßenlaterne und der Neumond, der am westlichen Nachthimmel stand, sorgten für etwas Licht. So leise wie möglich schlich Maya über den Gartenweg zum Haus, fand die Hintertür unverriegelt vor und drückte sie auf.
Aus der geöffneten Tür strömte Rauch und umhüllte sie wie eine Welle aus fauligem, grauem Wasser. Hustend und mit wedelnden Armen stolperte Maya zurück. Das Vine House stand in Flammen, und die Eichenbalken und Bodendielen aus dem achtzehnten Jahrhundert qualmten wie bei einem Kohlegrubenbrand.
Wo waren die Free Runner? Waren sie aus dem Haus geflüchtet, oder waren sie tot? Maya duckte sich und krabbelte auf Händen und Knien in den Flur. Nach links ging es durch eine Tür in die menschenleere Küche. Die Tür auf der rechten Seite führte in ein Schlafzimmer mit einer einzigen Lampe, einem schwachen Lichtpunkt in der Dunkelheit.
Mitten im Zimmer lag ein Mann – halb auf dem Boden und halb auf einer Matratze, so als wäre er zu erschöpft gewesen, es bis ins Bett zu schaffen. Maya packte die Arme des Mannes und zog ihn durch die Tür in den Garten hinaus. Sie hustete heftig, und ihre Augen tränten, trotzdem erkannte sie den Bewusstlosen als Gabriels Freund Jugger wieder. Sie riss seinen Oberkörper hoch und schlug ihm fest ins Gesicht. Juggers Augenlider flatterten, und er fing zu husten an.
»Hör mir zu!«, sagte Maya. »Ist da noch jemand im Haus?«
»Roland. Sebastian …« Jugger hustete erneut.
»Was ist passiert? Sind sie tot?«
»Zwei Männer kamen in einem Lieferwagen. Pistolen. Mussten uns auf den Boden legen. Die haben uns was gespritzt …«
Maya lief zum Haus zurück, holte tief Luft und ging noch einmal hinein. Wie ein Tier kroch sie durch den Flur und dann die schmale Treppe hoch. Ein Teil ihres Verstandes blieb ganz klar, während ihre Lunge nach Luft rang. Die Free Runner mit Pistolen oder Messern zu ermorden, hätte die Aufmerksamkeit der Behörden erregt. Stattdessen hatten die Söldner der Tabula die drei Männer unter Drogen gesetzt und Feuer in dem baufälligen Haus gelegt. Nun beobachteten sie den Hauseingang und das Gartentor, um sicherzugehen, dass keiner entkam. Am nächsten Morgen würden die Feuerwehrleute die Überreste der Leichen in der verkohlten Hausruine finden. Die Londoner Stadtverwaltung würde das Grundstück an einen Spekulanten verkaufen, und die Lokalzeitungen würden die Geschichte irgendwo auf den letzten Seiten bringen: DREI TOTE IN ILLEGALER UNTERKUNFT.
Maya entdeckte Sebastian in einem der Schlafzimmer, packte ihn am Arm und schleppte ihn die Treppe hinunter in den Garten. Als sie zum dritten Mal ins Haus zurückging, konnte sie die Flammen schon im Dunkeln lodern sehen. Sie zuckten unter einem Wohnzimmersessel hervor, krochen an den Wänden hoch und leckten an den Treppengeländern. Im Obergeschoss hatte sich schwarzer Rauch ausgebreitet und nahm Maya die Sicht, während sie Rolands leblosen Körper in der Dachkammer ertastete. Ziehen und warten. Ziehen und noch einmal warten.
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