Hawks, John Twelve - Dark River
Ihre Sicht und ihr Gehör schwanden, und mit den letzten Überbleibseln ihrer Sinne schleppte sie sich durch den Rauch.
Maya stolperte in den Garten, ließ Roland los, brach zusammen und fiel auf den schlammigen Erdboden. Nachdem sie mehrere Minuten lang gehustet und nach Luft geschnappt hatte, setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Jugger war noch bei Bewusstsein und murmelte undeutlich irgendetwas von Spritzen vor sich hin. Maya legte eine Hand auf den Brustkorb der beiden anderen Free Runner und fühlte sie atmen. Sie waren noch am Leben.
Sie hatte zwar den Revolver dabei, aber es wäre zu gefährlich, ihn in dieser Gegend zu benutzen. Hollis hatte ihr einmal erzählt, dass es in Los Angeles so viele Schusswaffen gab, dass die Silvesterfeiern wie Schießereien in einer Kriegszone klangen. In London hingegen war ein Schuss etwas äußerst Ungewöhnliches. Wenn sie den Revolver benutzte, würde die Hälfte der Leute, die am Platz wohnten, den Schuss hören und sofort die Polizei rufen.
Das Haus brannte weiter, die Vorhänge in Juggers Zimmer fingen Feuer und loderten hellorange. Maya stand auf, näherte sich der Hintertür und spürte, wie eine Hitzewelle durch die kalte Nachtluft auf sie zurollte. Während ihre Atmung sich normalisierte, erinnerte sie sich an ein Gespräch zwischen ihrem Vater und Mother Blessing. Es war um Schalldämpfer gegangen. Schalldämpfer für Schusswaffen waren in Europa verboten, schwierig aufzutreiben und umständlich zu transportieren. Manchmal war es besser, zu improvisieren und sie durch etwas anderes zu ersetzen.
Maya suchte den Garten ab und stieß auf ein paar überquellende Mülltonnen, die an der Mauer standen. Sie durchwühlte den Abfall, bis sie eine leere Zweiliterwasserflasche und ein Stück rosafarbenen Gummi fand, der aussah wie Teppichpolster. Maya zerriss den Gummi und stopfte die Flasche damit aus, dann steckte sie den Lauf des Revolvers in den Flaschenhals. Neben der Treppe zur Hintertür lag eine alte Rolle Klebeband, die sie benutzte, um Waffenlauf und Plastikflasche fest zu umwickeln. Jugger hatte sich aufgesetzt und schaute ihr vom anderen Ende des Gartens aus zu.
»Was … was machst du da?«
»Weck deine Freunde auf. Wir müssen los.«
Maya nahm die improvisierte Waffe, kletterte wieder über die Mauer, huschte durch eine Gasse und näherte sich dem Lieferwagen von hinten. Eins der Seitenfenster war zur Hälfte heruntergekurbelt, um Zigarettenqualm entweichen zu lassen, und sie konnte die beiden Männer reden hören.
»Wie lange müssen wir warten?«, fragte der Fahrer. »Ich kriege langsam Hunger.«
Der andere Mann lachte. »Dann geh zurück ins Haus. Da wird gerade Fleisch gegrillt …«
Maya trat neben die Fahrertür, hob den Revolver an und schoss. Die erste Kugel riss der Plastikflasche den Boden heraus und durchschlug die Glasscheibe. Der Knall erinnerte an klatschende Hände – zwei aufeinanderfolgende Schüsse, dann Stille.
DREISSIG
E ine Stunde bevor das Flugzeug in Heathrow landete, betrat Hollis die Bordtoilette, um sich auf engstem Raum umzuziehen. Er kam sich seltsam vor, als er mit dunkelblauem Hemd und dunkelblauer Hose bekleidet zu seinem Sitz zurückging, aber die Leute waren nach dem Übernachtflug zu angeschlagen, um etwas zu bemerken. Seine alten Sachen hatte er in eine kleine Tüte gestopft, die er an Bord des Flugzeugs lassen würde. Er trug alles, was er in England für die unbemerkte Einreise bräuchte, in einem braunen Umschlag unter dem Arm.
Während seiner letzten Tage in New York hatte Hollis eine E-Mail von Linden bekommen; sein Job sei getan, es sei an der Zeit, nach England zu kommen. Der französische Harlequin war nicht in der Lage, ein Handelsschiff zu finden, das Hollis auf illegalem Weg nach Europa bringen würde. Möglicherweise hatte die Tabula Hollis’ biometrische Kennzeichen in die Datenbank eingespeist, die Zollbeamte rund um die Welt mit Informationen versorgte. Nach seiner Ankunft in Heathrow würde Hollis möglicherweise den Sicherheitsalarm auslösen und von den Behörden festgenommen werden. Linden hatte Hollis erklärt, dass es eine andere Art der Einreise nach Großbritannien gab – die Einreise außerhalb des Rasters –, aber sie würde ein geschicktes Manöver im Terminal verlangen.
Der Flug der American Airlines war pünktlich in Heathrow gelandet, und die Leute rechts und links von Hollis fingen an, ihre Handys einzuschalten. Das Sicherheitspersonal hatte die Passagiere genau im
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