Hawks, John Twelve - Dark River
Strickmütze und eine Sonnenbrille. In Los Angeles hatte Gabriel langes braunes Haar und die lockere Art eines normalen jungen Mannes gehabt, der seine Zeit im Winter mit Skifahren und im Sommer mit Surfen verbringt. Im Lauf der letzten Monate hatte er an Gewicht verloren und sah jetzt so ausgemergelt aus wie jemand, der sich von einer langen Krankheit erholt.
Hollis hatte eine geschickte Verteidigungsposition gewählt, von der aus man einen unverstellten Blick auf die meisten Ecken des Parks hatte. Maya erlaubte sich, für einen Moment zu entspannen und sich über die Tatsache zu freuen, dass sie noch am Leben waren. Als kleines Mädchen hatte sie diese Augenblicke ihre »Juwelen« genannt. Die Juwelen waren jene raren Gelegenheiten, bei denen sie sich sicher genug fühlte, um etwas Schönes oder Angenehmes zu genießen – den rosa Himmel bei Sonnenuntergang oder gewisse Abende, an denen ihre Mutter etwas Besonderes wie »rogan josh« mit Lammfleisch kochte.
»Irgendwelche Vorfälle heute Nachmittag?«, fragte sie.
»Gabe hat in der Schlafecke gelegen und gelesen, und dann haben wir uns ziemlich lang über seinen Vater unterhalten.«
»Was hat er gesagt?«
»Er will ihn immer noch finden«, sagte Hollis. »Ich kann verstehen, wie er sich fühlt.«
Aufmerksam beobachtete Maya drei ältere Frauen, die sich Gabriel näherten. Sie waren Wahrsagerinnen, die am Parkeingang saßen und den Passanten anboten, für zehn Dollar die Zukunft vorherzusagen. Wann immer Gabriel an ihnen vorbeikam, streckten sie die Arme aus wie Bettlerinnen, die um ein Almosen bitten – Handflächen nach oben, die rechte Hand unter der linken. Aber an diesem Nachmittag wollten sie ihm nur ihre Hochachtung erweisen. Eine der Frauen stellte einen Pappbecher mit Tee neben das Schachbrett auf dem Tischchen.
»Keine Sorge«, sagte Hollis. »Das kommt nicht zum ersten Mal vor.«
»Die Leute werden darüber reden.«
»Na und? Niemand weiß, wer er ist. Die Wahrsagerinnen spüren einfach, dass er irgendeine Kraft ausstrahlt.«
Der Traveler bedankte sich bei den Frauen für den Tee. Sie verbeugten sich vor ihm und gingen dann zurück an ihren Platz am Zaun. Gabriel wandte sich wieder der Schachpartie zu.
»Ist Aronov zum Treffen erschienen?«, fragte Hollis. »In der SMS stand, er hätte ein neues Gerät im Angebot.«
»Er hat versucht, mir eine Keramikwaffe zu verkaufen, mit der man an Metalldetektoren vorbeikommt. Vermutlich wurde sie von einer russischen Sicherheitsbehörde hergestellt.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden. Wir sind für sieben Uhr heute Abend verabredet. Wir werden nach Jersey fahren, damit ich ein paar Probeschüsse abgeben kann.«
»So eine Waffe könnte nützlich sein. Wie viel verlangt er?«
»Neuntausend Dollar.«
Hollis lachte. »Ich nehme kaum an, dass wir als ›gute Kunden‹ einen Rabatt kriegen?«
»Sollen wir sie kaufen?«
»Neuntausend in bar sind eine Menge Geld. Du solltest mit Vicki darüber sprechen. Sie weiß, wie viel wir noch haben und wie hoch die laufenden Kosten sind.«
»Ist sie im Loft?«
»Ja. Sie bereitet das Abendessen vor. Wir gehen zurück, sobald Gabriel mit der Partie fertig ist.«
Maya stand auf und ging über den vertrockneten Rasen an der Bank vorbei, auf der Gabriel beim Schachspielen saß. Wenn sie ihre Gefühle einmal nicht im Griff hatte, merkte sie, dass sie seine Nähe suchte. Sie waren keine Freunde –, das wäre unmöglich gewesen. Aber sie hatte das Gefühl, er könnte in ihr Herz sehen und ihr Innerstes deutlich erkennen.
Gabriel hob den Kopf und lächelte sie an. Es war nur ein kurzer Moment zwischen den beiden, und Maya wurde glücklich und wütend zugleich. Sei kein Idiot , sagte sie sich. Vergiss nicht: Du bist hier, um ihn zu beschützen, und nicht, um ihn zu mögen.
Sie überquerte den Chatham Square und bog in den East Broadway ein. Auf dem Bürgersteig drängten sich Touristen und Chinesen, die fürs Abendessen einkauften. Hinter den beschlagenen Schaufensterscheiben der Geschäfte hingen geröstete Enten und Zwiebelhühnchen an Metallhaken, und beinahe wäre Maya mit einem jungen Mann zusammengestoßen, der ein in Klarsichtfolie verpacktes Spanferkel auf dem Arm trug. Als sie sich unbeobachtet fühlte, schloss Maya die Haustür auf und betrat das Gebäude in der Catherine Street. Noch mehr Schlüssel. Noch mehr Schlösser. Dann betrat sie das Loft.
»Vicki?«
»Ich bin hier.«
Maya zog eine der Planen beiseite und
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