Hawks, John Twelve - Dark River
war, kam ihr britischer Akzent stärker durch. »Mein Kopf gibt einfach keine Ruhe.«
»Das kann ich verstehen. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich zu viele Gedanken und zu wenig Stauraum dafür.«
Sie schwiegen wieder, und er konnte sie atmen hören. Er erinnerte sich daran, dass sie gelogen hatte, als es um seinen Vater ging. Hatte sie noch andere Geheimnisse vor ihm? Gab es weitere Dinge, die er wissen sollte? Der Harlequin rückte ein paar Zentimeter von Gabriel ab, damit sie nicht so nah beieinandersaßen. Mayas Körper verspannte sich, und Gabriel konnte sie tief einatmen hören, so als plante sie ein riskantes Manöver.
»Ich habe auch über unseren Streit gestern Abend nachgedacht.«
»Du hättest mir von meinem Vater erzählen sollen«, sagte Gabriel.
»Ich wollte dich schützen. Glaubst du mir das nicht?«
»Das reicht mir nicht.« Gabriel beugte sich vor. »Also gut. Mein Vater hat den Leuten von New Harmony einen Brief geschrieben. Bist du dir ganz sicher, dass du nicht weißt, wo der Brief aufgegeben wurde?«
»Ich habe dir von Carnivore erzählt. Die Regierung überprüft ständig alle E-Mails. Martin hätte mir wichtige Informationen niemals über das Internet geschickt.«
»Woher soll ich wissen, dass du mir die Wahrheit sagst?«
»Gabriel, du bist ein Traveler. Du weißt nach einem Blick in mein Gesicht, dass ich nicht lüge.«
»Ich dachte nicht, dass das nötig wäre. Nicht bei dir.« Gabriel stand von der Couch auf und ging zurück zu seiner Liege. Er legte sich hin, aber er konnte nicht einschlafen. Er wusste, dass Maya sich Sorgen um ihn machte, trotzdem schien sie nicht zu verstehen, wie wichtig ihm die Suche nach seinem Vater war. Nur sein Vater konnte ihm sagen, was er zu tun hatte, jetzt, da er ein Traveler war. Gabriel verstand, dass er sich veränderte, dass er zu einem anderen Menschen wurde, aber er verstand nicht, warum.
Er schloss die Augen und träumte von seinem Vater, der durch eine dunkle New Yorker Straße lief. Gabriel schrie und rannte ihm nach, aber sein Vater war zu weit entfernt, um die Schreie zu hören. Matthew Corrigan bog um eine Häuserecke, aber als Gabriel sie endlich erreicht hatte, war sein Vater verschwunden.
Im Traum stand Gabriel unter einer Straßenlaterne, und der Asphalt unter seinen Füßen war dunkel und glänzte vom Regen. Er sah sich um und entdeckte eine Überwachungskamera auf dem Dach eines Hauses. Eine zweite Kamera hing an der Laterne, und ein halbes Dutzend weitere waren entlang der menschenleeren Straße installiert. In dem Moment verstand er, dass Michael ebenfalls auf der Suche war, nur dass sein Bruder über die Kameras verfügte, über die Scanner und all die anderen Hilfsmittel des Systems. Das Ganze war ein Rennen, ein schrecklicher Wettkampf zwischen ihnen beiden, und Gabriel hatte keine Chance zu gewinnen.
FÜNF
O bwohl die Harlequins sich manchmal als die letzten Verfechter der Geschichte betrachteten, basierten ihre Geschichtskenntnisse mehr auf der Tradition als auf den Fakten, die man in Schulbüchern findet. Während ihrer Kindheit in London hatte Maya sich die traditionellen Hinrichtungsstätten merken müssen, die über die ganze Stadt verteilt lagen. Ihr Vater hatte ihr die Plätze während der täglichen Unterrichtsstunden in Waffenkunde und Straßenkampf der Reihe nach gezeigt. Tyburn war für Betrüger, der Tower of London für Verräter und am Hinrichtungsdock von Wapping hatte man die verschrumpelten Leichen der gehenkten Piraten oft jahrelang hängen lassen. Zu verschiedenen Zeiten hatten die Behörden es auch auf Juden, Katholiken und eine lange Liste von Andersdenkenden abgesehen, die einen anderen Gott anbeteten oder eine andere Weltsicht predigten. An einer bestimmten Stelle in West Smithfield hatte man Ketzer hingerichtet, Hexen und Gattenmörderinnen – und namenlose Harlequins, die den Schutz ihres Travelers mit dem Leben bezahlten.
Als Maya das Strafgericht von Lower Manhattan betrat, verspürte sie plötzlich dasselbe Gefühl von versammeltem Elend wie als Kind bei den Hinrichtungsstätten. Sie blieb kurz hinter dem Eingang stehen und starrte zu der Uhr hinauf, die unter der zweistöckigen Decke hing. Die weißen Marmorwände des Gebäudes, die Art-déco-Lampen und die geschnörkelten Treppengeländer kündeten noch vom Feingefühl einer längst vergangenen Epoche. Dann senkte sie den Blick und inspizierte die Welt, in der sie sich befand: Polizisten und Verbrecher, Gerichtsdiener und Anwälte,
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