Hawks, John Twelve - Dark River
die Couch gesetzt, wenn die Schmerzen unerträglich wurden. Sie war eine Freundin.
Verdammte Freunde , dachte Maya. Harlequins erkannten Verpflichtungen gegenüber anderen Harlequins an, aber Freundschaften mit Bürgern wurden als Zeitverschwendung angesehen. Während ihres kurzen Versuchs, in London ein normales Leben zu führen, hatte Maya sich mit Männern verabredet und Kontakte zu ihren Kolleginnen in der Designerfirma geknüpft. Aber mit keinem dieser Menschen hatte sie sich wirklich angefreundet. Sie konnten Mayas besondere Weltsicht nicht verstehen; sie war stets die Gejagte und immer zum Angriff bereit.
Sie legte eine Hand auf den Riegel, öffnete die Tür jedoch nicht. Sieh dir die Fakten an , sagte sie zu sich. Schneide dein Herz auf und seziere deine Gefühle. Du bist eifersüchtig auf Vicki. Das ist alles. Eifersüchtig auf das Glück einer anderen.
Sie kehrte in den Schlafbereich zurück. »Vicki, was ich gesagt habe, tut mir leid. Im Moment passiert einfach zu viel.«
»Ich weiß. Es war falsch von mir, das Thema anzusprechen.«
»Ich respektiere dich und Hollis. Ich möchte, dass ihr glücklich seid. Lass uns darüber reden, wenn ich heute Abend wiederkomme.«
»Okay.« Vicki entspannte sich und lächelte. »So machen wir’s.«
Als Maya das Gebäude endlich verlassen hatte, fühlte sie sich besser. Ihre liebste Stunde brach an, der Übergang vom Tag zur Nacht. Bevor die Straßenlampen angingen, schienen kleine Flecken aus Dunkelheit in der Luft zu hängen. Die Schatten verloren ihre scharfen Umrisse, und alle Grenzen verschwammen. Scharf und glatt wie eine Klinge tauchte Maya in die Lücken in der Menschenmenge ein und glitt durch die Stadt.
SECHS
M aya schlug sich in nördlicher Richtung durch die Gassen von Chinatown, bis sie die breiten Avenues von Manhattans Midtown erreicht hatte. Dies war der sichtbare Teil der Stadt, in dem das System seine Kontrolle ausübte. Aber Maya wusste von der komplizierten Welt unter dem Asphalt, einem Labyrinth aus U-Bahn-Tunneln, Zuggleisen, vergessenen Durchgängen und Versorgungsröhren mit elektrischen Leitungen. Halb New York war unsichtbar, tief eingegraben ins Grundgestein, das die Wohnhäuser in Spanish Harlem ebenso trug wie die Glastürme an der Park Avenue. Und im Verborgenen existierte auch eine gesellschaftliche Parallelwelt, verschiedene Gruppen von Ketzern und wahren Gläubigen, von illegalen Einwanderern mit gefälschten Papieren und angesehenen Bürgern mit Doppelleben.
Eine Stunde später stand sie auf der Marmortreppe, die zum Lincoln Center, einem Gebäudekomplex für Darstellende Künste, hinaufführte. Die Theater- und Konzertsäle gruppierten sich um einen großen Platz mit einem beleuchteten Brunnen in der Mitte. Die meisten Vorstellungen hatten noch nicht begonnen, und schwarz gekleidete Musiker mit Instrumentenkoffern sprangen die Stufen hoch und liefen über den Platz zu den verschiedenen Konzertgebäuden. Maya verstaute das Geld in einer Reißverschlusstasche im Innern ihrer Jacke, dann warf sie einen Blick über die Schulter. Deutlich konnte sie die zwei Überwachungskameras erkennen, die jedoch auf die Menschengruppen neben dem Brunnen gerichtet waren.
Ein Taxi hielt am Ankunftsbereich. Aronov saß auf dem Rücksitz. Er winkte ihr zu, und Maya stieg die Treppe hinunter und zu dem Russen in den Wagen.
»Guten Abend, Miss Strand. Wie schön, Sie wiederzusehen.«
»Die Waffe muss funktionieren, ansonsten kommen wir nicht ins Geschäft.«
»Selbstverständlich.« Aronov erklärte dem Fahrer, einem jungen Mann mit Stachelfrisur, den Weg, und sie bogen auf die Straße ein. Einige Häuserblocks später waren sie auf der Ninth Avenue in Richtung Süden unterwegs.
»Haben Sie das Geld mitgebracht?«, fragte der Russe.
»Nicht mehr, als wir abgemacht hatten.«
»Sie sind ein sehr misstrauischer Mensch, Miss Strand. Vielleicht sollte ich Sie als meine Assistentin einstellen.«
Während sie die 42. Straße überquerten, zog Aronov einen Kugelschreiber und ein in Leder gebundenes Notizbuch aus der Tasche, so als wollte er ein Memo schreiben. Er fing an, von seinem Lieblingsnachtclub auf Staten Island zu schwärmen und von der exotischen Tänzerin, die früher zum Ensemble des Moskauer Balletts gehört hatte. Bedeutungsloses Geschwätz wie aus dem Mund eines Autoverkäufers, der einen Kunden über seinen Hof führt. Maya fragte sich, ob der Keramikrevolver eine Attrappe war und Aronov versuchen würde, das Geld zu rauben. Aber
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