Hawks, John Twelve - Dark River
das dreißig Zentimeter über Gabriels Kopf in einen Holzbalken einschlug.
Maya stellte sich vor Gabriel, das eigene Messer gezückt. Die Klinge lag flach auf ihrer Hand, sie hob blitzschnell den Arm – und erkannte plötzlich ein vertrautes Gesicht. Eine Irin Mitte fünfzig. Grüne Augen, die wild, beinahe irre, funkelten. Eine rote Locke, die unter dem gestärkten weißen Kopftuch hervorblitzte. Ein breiter Mund, der absolut verächtlich grinste.
»Offensichtlich bist du nicht besonders wachsam. Und schlecht vorbereitet«, sagte die Frau zu Maya. »Ein paar Zentimeter tiefer und dein bürgerlicher Freund wäre jetzt tot.«
»Das ist Gabriel Corrigan«, sagte Maya. »Er ist ein Traveler wie sein Vater. Und du hättest ihn beinahe getötet.«
»Ich habe noch nie jemanden unabsichtlich getötet.«
Gabriel warf einen Blick auf das Messer. »Und wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Das ist Mother Blessing. Sie ist einer der letzten lebenden Harlequins.«
»Natürlich. Ein Harlequin …« Gabriel sprach das Wort mit Verachtung aus.
»Ich kenne Maya seit ihrer Kindheit«, sagte Mother Blessing. »Ich war diejenige, die ihr beigebracht hat, wie man in ein Haus einbricht. Sie wollte immer so sein wie ich, aber anscheinend hat sie noch eine Menge zu lernen.«
»Was machst du hier?«, fragte Maya. »Linden denkt, du bist tot.«
»Das war meine Absicht.« Mother Blessing zog sich den Schal von den Schultern und faltete ihn zu einem kleinen Quadrat zusammen. »Als Thorn in Pakistan in einen Hinterhalt geriet, wurde mir klar, dass es einen Verräter in unseren Reihen gibt. Dein Vater hat mir nicht geglaubt. Wer war es, Maya? Kannst du es mir sagen?«
»Es war Sheperd. Ich habe ihn getötet.«
»Gut. Hoffentlich hat er lange gelitten. Ich bin vor vierzehn Monaten auf diese Insel gekommen. Als die Äbtissin starb, baten die Nonnen mich, den Posten vorläufig zu übernehmen.« Wieder grinste sie höhnisch. »Wir Klarissen leben einfach, aber fromm.«
»Dann sind Sie feige«, sagte Gabriel. »Sie sind hergekommen, um sich zu verstecken.«
»Was für ein einfältiger junger Mann. Ich bin nicht beeindruckt. Vielleicht sollten Sie noch ein paarmal transzendieren.« Mother Blessing durchquerte die Kapelle, zog das Messer aus dem Holzbalken und ließ es in seine Scheide zurückgleiten, die sie unter der Robe trug. »Seht ihr den Altar am Fenster? Dort wird eine illustrierte Handschrift aufbewahrt, die angeblich von Sankt Columban angefertigt wurde. Mein Traveler wollte das Buch unbedingt lesen, deswegen sah ich mich gezwungen, ihm auf diesen kleinen kalten Felsbrocken zu folgen.«
Gabriel nickte aufgeregt und ging auf sie zu. »Und dieser Traveler ist …?«
»Ihr Vater natürlich. Er ist hier. Ich beschütze ihn.«
ZWANZIG
G abriel spürte eine Welle der Vorfreude und schaute sich in der Kapelle um. »Wo ist er?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich führe Sie zu ihm.« Mother Blessing zog sich ein paar Nadeln aus dem Haar und nahm Haube und Schleier ab. Sie bewegte kurz den Kopf, um ihre rote Lockenmähne aufzuschütteln.
»Warum haben Sie Maya nicht darüber informiert, dass mein Vater hier auf dieser Insel ist?«
»Ich habe zu den anderen Harlequins keinen Kontakt mehr.«
»Mein Vater hätte Sie bitten sollen, mich zu finden.«
»Tja. Hat er aber nicht.« Mother Blessing legte die Haube auf ein Tischchen. Sie hob ein Schwert in einer ledernen Scheide vom Boden auf und hängte sich den Riemen um die Schulter. »Hat Maya Ihnen das nicht erklärt? Harlequins beschützen die Traveler nur. Wir versuchen nicht, sie zu verstehen.«
Ohne jede weitere Erklärung führte sie Gabriel und Maya aus der Kapelle. Draußen wartete eine der vier Nonnen, eine sehr zierliche Irin, auf einer Steinbank. Sie hielt einen hölzernen Rosenkranz in den Fingern und war ins stille Gebet vertieft.
»Wartet Kapitän Foley immer noch unten am Anleger?«, fragte Mother Blessing.
»Ja, Madam.«
»Sagen Sie ihm, dass unsere Gäste auf der Insel bleiben, bis ich ihm Bescheid gebe. Die beiden Frauen und das Kind übernachten im Schlafsaal. Der junge Mann wird in der Vorratshütte schlafen. Sagen Sie Schwester Joan, dass sie heute zum Abendessen die doppelte Menge zubereiten soll.«
Die zierliche Nonne nickte und eilte davon, in einer Hand noch immer den Rosenkranz haltend. »Wenigstens können diese Frauen Anweisungen befolgen«, sagte Mother Blessing. »Aber das ewige Singen und Beten kann einem wirklich auf die Nerven gehen. Für einen
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