Heaven (German Edition)
tun sollen.» Ich hob die Stimme nicht, aber selbst ich konnte den Zorn heraushören, der darin steckte. In meinem Kopf hatte sich etwas verändert.
Wut kann die Realität verzerren, ich aber sah in diesem Moment die Dinge so klar wie selten zuvor. Dadurch verlor der Reiter jegliche Macht über mich. Fast glaubte ich zu spüren, wie sich die Zahnräder in meinem Kopf bewegten, und für den Bruchteil einer Sekunde war es, als würde ich alles mit Röntgenaugen betrachten. Ich sah jedes einzelne Molekül der Hütte, konnte genau sagen, wo ihre Schwachpunkte waren, und spürte, wo Luftfeuchtigkeit durch die Wand eindrang. Ich wusste Dinge, die niemand wissen konnte, zum Beispiel, wo der letzte Regentropfen eines Sommersturms auf dem Boden aufgekommen war. Ich sah den Reiter noch immer an, jetzt aber konnte ich durch ihn hindurchsehen. Alles Menschliche an mir schien zu verschwinden, stattdessen fühlte ich mich eins mit dem Universum – ich war Luft, Fels, Holz, Erde. Und ich wusste genau, was ich tun musste und tun konnte.
Mit einem Handgriff riss ich den Stein aus der Treppe, von dem ich wusste, dass er lose war. Ich warf ihn auf den Reiter wie ein Frisbee, so schnell, dass er seine Kehle traf, bevor er ihn hatte kommen sehen. Sein Kopf flog nach hinten, und er taumelte ein paar Schritte ins Haus zurück. Mit bisher ungekannter Kraft riss ich meine Hand nach vorn und zog die Tür hinter ihm zu. Meine Fingerspitzen begannen zu prickeln, und bevor ich mich versah, qualmte das Dach. Was als Nächstes geschah, war nicht mehr in meiner Macht. Vor meinen Augen entfachte sich ein Feuer, entzündete das Verandadach und ließ die Fensterscheiben zerbersten. Wenige Sekunden später stand Willow Lodge komplett in Flammen. Als die Wände zusammenstürzten, brannte der Reiter lichterloh. Das Feuer würde ihn nicht töten … wahrscheinlich würde es nicht einmal Spuren an ihm hinterlassen. Aber es hatte ihn fürs Erste ausgebremst. Für wie lange, wusste ich nicht, und ich hatte auch nicht vor, es herauszufinden.
Nur eins war jetzt wichtig: Xavier in Sicherheit zu bringen. Ich hastete zu ihm, er war ohne Bewusstsein, aber er atmete. Tragen konnte ich ihn nicht, ihn zu Fuß von hier wegzubringen war unmöglich. Durch das Fenster konnte ich erkennen, dass sich der Reiter bereits wie eine brennende Fackel in Richtung Tür bewegte. Da öffneten sich mit lautem Knacken meine Flügel. Das Geräusch dröhnte durch den Wald, dass die Vögel aus den Baumwipfeln flohen. Ich packte Xavier von hinten, legte meine Arme um seine Brust und hob ihn in die Luft. Meine Flügel waren so stark, dass er in meinen Armen kaum Gewicht zu haben schien. Ich flog in Richtung Straße und hielt uns so tief wie möglich, um nicht gesehen zu werden, sodass die Baumwipfel an Xaviers Fußsohlen streiften.
Ich konnte nicht wirklich klar denken, hatte aber den vagen Plan, irgendwo zu landen und ein Auto anzuhalten. Dann aber erblickte ich erleichtert den vertrauten schwarzen Jeep, der die Schotterpiste den Berg hinauffuhr. Meine Geschwister sahen mich im gleichen Moment wie ich sie. Das Auto hielt abrupt an, und im selben Augenblick war Gabriel an meiner Seite, nahm Xavier auf den Arm und bettete ihn sanft auf den Rücksitz.
«Wo wart ihr?», fragte ich. Die Tränen liefen mir das ascheverschmierte Gesicht hinunter.
«Wir sind so schnell gekommen wie möglich», sagte Ivy atemlos.
Ich wies auf Xavier. «Kannst du ihm helfen?»
Ivy legte ihm eine Hand auf die Stirn, und einen Moment später gewann er das Bewusstsein zurück. Er stöhnte und fasste sich automatisch an den Kopf.
«Es ist alles in Ordnung», sagte ich. «Wir sind in Sicherheit.»
Als ihm wieder einfiel, was sich in der letzten halben Stunde abgespielt hatte, erstarrte er. So schnell er konnte setzte er sich auf.
«Wo ist er hin?», fragte er. «Und wo sind wir?»
«Ivy und Gabriel sind bei uns», sagte ich. «Wir konnten entkommen.»
«Aber wie?», fragte Xavier. «Der Reiter wollte dich …»
«Ich glaube …», begann ich zögernd. «Ich glaube, ich habe ihn in Brand gesetzt oder so.»
«Unmöglich.» Xavier starrte kurz vor sich hin, dann lachte er. «Das ist einfach irre. Und er hatte es verdient.»
Ivy teilte seine Begeisterung nicht. «Hast du den Verstand verloren?» Ihre silbernen Augen wirkten vor Schreck beinahe metallen. «Du hast einen der Sieben Reiter angegriffen? Das ist Verrat gegen das Königreich!»
«Es war nicht geplant», protestierte ich. «Aber er hat
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