Heaven (German Edition)
bei dieser Vorstellung verzweifeln müssen, stattdessen aber verspürte ich nichts als Erschöpfung. Ich war es müde, zu kämpfen, zu diskutieren, müde vom ständigen Orakeln.
«Aber wenn ihr uns nicht dem Bund ausliefert, wohin fahren wir dann?», fragte Xavier in dem Versuch, die dunkle Stille zu durchbrechen, die sich über uns gelegt hatte.
«Wir bringen euch zu einem neuen Versteck», sagte Ivy.
«Oh nein», stöhnte ich.
«Dieses Mal aber an einen Ort, den sie nicht so leicht aufspüren können.»
«So einen Ort gibt es?», fragte Xavier skeptisch.
«Ganz sicher bin ich mir da auch nicht», antwortete Ivy.
«Mir ist es egal, wohin wir fahren, solange Beth nicht wieder eingesperrt wird. Damit kommt sie nicht gut klar.»
Xaviers Bemerkung schien in Ivy irgendetwas auszulösen. Ihre Augen blitzten auf. War ihr eine Idee gekommen?
«Vielleicht müssen wir es genau andersherum angehen», murmelte sie kryptisch.
«Andersrum?», wiederholte ich. «Was meinst du, Ivy?»
«Die Reiter gehen davon aus, dass wir euch an einem abgelegenen Ort verstecken. In diesen Gegenden suchen sie zuerst. Deshalb ist es vielleicht viel besser, wenn ihr in einer Menschenmenge untertaucht.»
«Das könnte funktionieren», sagte Gabriel, der viel schneller als Xavier und ich begriff, worauf Ivy hinauswollte. «Mit ihren feinen Sensoren können die Reiter die Schwingungen aufnehmen, die wir Engel aussenden. Je mehr Menschen in der Nähe sind, desto schwerer sind diese Schwingungen wahrzunehmen.»
«Und wohin wollt ihr uns bringen? Nach China?», fragte Xavier.
«Überlegt doch mal», sagte Gabriel. «Wo wärt ihr beiden jetzt unter normalen Umständen?»
«Zu Hause?», fragte ich.
«Denk weiter», drängte Gabriel. «Denk zum Beispiel an Molly. Wie sind ihre Pläne?»
«Woher sollen wir denn das wissen?», sagte Xavier, dem die Rätselei auf die Nerven zu gehen schien.
Doch da packte ich seine Hand. «Warte. Molly geht nach Alabama – aufs College.»
«Das soll ein Witz sein, oder?» Xavier saß plötzlich so aufrecht, als ob die Vorstellung irgendetwas in ihm entfacht hatte. «Ihr wollt uns aufs College schicken?»
«Auf die Idee kommen die Reiter niemals», antwortete Ivy. «Sie würden euch dort nicht mal finden, wenn ihr direkt vor ihrer Nase säßt.»
«Seid ihr sicher?» Xavier hob skeptisch die Augenbrauen.
«Ihr müsst natürlich unter anderem Namen leben», sagte Gabriel. «Sonst seid ihr zu leicht aufzuspüren.»
«Das klingt, als würden wir ein neues Leben beginnen», sagte ich und spürte, wie die Aufregung in mir zu brodeln begann. «Wir können sein, wer immer wir wollen.»
«Ich dachte, das Thema College hätte sich für uns für eine ganze Weile erledigt», sagte Xavier. Er klang, als hätte man ihm gerade einen Teil seines Lebens zurückgeschenkt.
«Freut euch nicht zu früh. Wer weiß, wie lange es gut geht.»
«Wir leben von Tag zu Tag», sagte Xavier.
«Ist es egal, auf welches College wir gehen?», fragte ich. Ivy schien meine Gedanken zu erraten.
«Warum nicht auf das College, auf das ihr ohnehin wolltet?»
Das College war für mich immer eine Art Traumbild gewesen, wie eine Szene in einer Schneekugel, die ich von außen betrachtete, aber nie selber erfahren konnte. In meiner Vorstellung verkörperte das Leben am College alles, was ich an der Welt der Menschen liebte. Nie hätte ich erwartet, dass ich je das Glück haben würde, es selber zu erleben.
«Dann sollten wir uns auf den Weg nach Oxford in Mississippi machen.»
Ich öffnete das Fenster und atmete tief ein. Innerlich stählte ich mich für die neue Herausforderung, die unser unberechenbares Leben für uns bereithielt.
Um einige Vorbereitungen zu treffen, mussten wir für eine Nacht nach Venus Cove zurückkehren, was schwerer war, als ich erwartet hatte. Als ich Phantom wiedersah, merkte ich erst, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Xavier hingegen musste damit klarkommen, so nah bei seiner Familie zu sein und doch keinen Kontakt zu ihr aufnehmen zu können. Verzweifelt tigerte er mit geballten Händen durch das Wohnzimmer.
«Es tut mir leid, wie alles gelaufen ist», versuchte ich ihn zu trösten.
«Sie sind meine Eltern», sagte er. «Ich kann sie nicht einfach aus meinem Leben streichen und so tun, als hätten die letzten achtzehn Jahre meines Lebens nicht stattgefunden. Und ich möchte für meine Schwestern da sein, möchte sehen, wie Jasmine und Maddy groß werden.»
«Das wirst du auch», sagte ich mit fester Stimme.
Weitere Kostenlose Bücher