Heaven (German Edition)
verschwand.
Xavier sah Ivy fassungslos an. «Muss er … sollte er einen Therapeuten aufsuchen?»
«Gabriel hat alle menschlichen Gräueltaten seit Beginn der Zeit gesehen», antwortete meine Schwester. «Es wären endlose Sitzungen.»
«Das geht doch alles vorüber, oder?», fragte ich beunruhigt. «Wenn seine Flügel wieder ganz sind, wird er doch wieder normal?»
«Glücklicherweise ja», sagte Ivy. «Wir müssen dankbar sein, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist. Wenn Engelsflügel verletzt werden, können sie so schweren Schaden davontragen, dass sie sich nie wieder erholen. Gabriel aber wird heilen.»
«Haben denn seine kaputten Flügel damit zu tun, dass er sich so benimmt?», sagte Xavier. «Ich meine – Molly! Ist das sein Ernst?»
«Das, was uns ausmacht, steckt in unseren Flügeln», antwortete Ivy. «Sie sind die Quelle unserer Kraft, wie die Wurzeln eines Baumes. Wenn die Wurzeln vergiftet sind, leidet der ganze Baum. Gabriel ist geschwächt, und deshalb zweifelt er, er grübelt und durchlebt Gefühle, die er bisher höchstens geahnt hat.»
«Und was können wir tun?»
«Nichts», antwortete meine Schwester. «Er braucht einfach nur Zeit.»
«Und was ist mit Molly?», fragte ich.
«Seine Gefühle für sie werden sich in nichts auflösen, und bald wird er wieder der Erzengel Gabriel sein», sagte Ivy.
«Großartig», sagte Xavier sarkastisch. «Das wird ein Spaß.»
Ich überließ Xavier und Ivy ihrem Gespräch und öffnete die Verandatür. Mein Bruder saß auf den knarrenden Stufen und blickte auf den ungepflegten Garten. Seine Stirn lag in Falten, während er das tote Laub zu seinen Füßen zu hypnotisieren schien. Es war ganz offensichtlich, dass er nicht er selbst war.
«Das bist nicht du, und das weißt du», sagte ich und hockte mich neben ihn. «Es geht alles vorbei, es ist nur vorübergehend.»
Es war ein komisches Gefühl, dass es auf einmal ich war, die ihm Ratschläge gab. Bisher war es immer andersherum gewesen.
«Wie hältst du das aus?», fragte Gabriel leise. «Diese Unwegsamkeiten des menschlichen Lebens. Warum möchtest du so empfinden wie sie? Dieses Chaos! Mein Kopf ist voll, ich kann nicht mehr denken.»
Ich lächelte. «Das liegt halt nicht jedem.»
Als Gabriel mich ansah, bemerkte ich, dass seine Augen so dunkel geworden waren, als ob in ihnen ein Sturm tobte. Zum ersten Mal überhaupt hatte ich das Gefühl, dass er mich verstand.
«Ich weiß, dass ich mich rücksichtslos verhalten haben», sagte er. «Und ich hasse mich dafür.»
«Das solltest du aber nicht.» Ich legte ihm eine Hand auf die breite Schulter. «Du hast meinetwegen ein großes Opfer gebracht. Ich wünschte, du müsstest deshalb nicht so leiden, aber du hast Xavier das Leben gerettet – und mir auch. Niemand ist wütend auf dich. Wir sind hier, um dir beizustehen. Damit du darüber hinwegkommst.»
«Danke», murmelte Gabriel. «Ich hoffe, ich erhole mich rasch. Ich habe nämlich das Gefühl, mich selbst nicht mehr zu kennen.»
«Du kennst dich selbst, Gabriel», antwortete ich. «Du wusstest immer genau, wer du bist und was deine Aufgabe ist.» Ich drückte ihm die Hand. «Im Moment ist der Gabriel, den wir kennen und lieben, vielleicht verschüttet, aber er ist trotzdem da, tief in dir. Und er wird zurückkommen. Mach dir keine Sorgen.»
[zur Inhaltsübersicht]
23
Ich weiß etwas, was du nicht weißt
«Ihr könnt nicht zurück ans College», erklärte Ivy.
Auch wenn ich es hatte kommen sehen, war es doch wie ein Schlag ins Gesicht. Die Ole Miss war das Einzige, was unserem Leben in letzter Zeit Normalität gegeben hatte. Jetzt fühlte ich mich wie Peter Pan, der, die Nase am Fenster plattgedrückt, auf ein Leben blickte, von dem er ausgeschlossen war, und auf Menschen, die ihn schon bald vergessen haben würden. Nur dass Peter Pan für immer jung blieb. Ich hingegen hatte das Gefühl, dass Xavier und ich hundert Jahre alt waren, lebensmüde und ohne Kraft, weiterzukämpfen.
Ich sehnte mich danach, aufs College zu gehen und noch einmal von vorn zu beginnen. Ich wollte Vorlesungen besuchen, Football-Spiele anschauen und von Menschen und all ihren vielfältigen Aktivitäten umgeben sein. Stattdessen war ich von Stille umgeben. In der Luft hingen schwere Gespräche, die wir geführt hatten und noch führen mussten. Sicher, Xavier und ich würden immer einander haben, aber ich war mir nicht mehr sicher, ob wir die Last dadurch teilten oder verdoppelten. Um uns herum gab es mehr
Weitere Kostenlose Bücher