Heaven - Stadt der Feen
dann werden sie mich in Richmond vermuten. Aber garantiert nicht in Little Venice.«
David seufzte. »Trotzdem«, sagte er. »Ich nehme dich mit in den Buchladen, da wohne ich. Das ist sicherer. Du kannst von dort ja jemanden anrufen, der dir weiterhilft. Und bis du abgeholt wirst, kannst du dich ein wenig ausruhen.«
Sie schaute ihn fragend an. »Wen sollte ich anrufen?«
»Weiß nicht. Eltern, Freund, Freundin, irgendwen.«
»Meine Eltern sind tot.«
David sah sie an. »Tut mir leid«, sagte er schnell. Er wusste, dass es sich verlegen anhörte.
»Ich . . .« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt niemanden, den ich jetzt anrufen könnte.«
David zögerte einen winzigen Moment. Diesmal dachte er nicht an den Ärger, den er sich vielleicht einhandeln konnte, wenn sie bei ihm blieb. Er dachte nur daran, wie verletzt sie vorhin ausgesehen hatte, als ihr klar wurde, dass er ihr nicht glaubte.
Er traf seine Entscheidung. »Dann bleibst du eben erst einmal bei mir«, stellte er fest.
»Über Nacht?«
»Keine Angst, du bekommst das Bett und ich nehme den Sessel.«
Sie musste lächeln und zog dabei auf eine lustige Art die Nase kraus. »Den Sessel?«
»Ist ein bequemer Sessel«, sagte er schnell.
Das Lächeln erreichte ihre Augen und ließ sie strahlen. »Das glaube ich.«
»Was ist daran so komisch?«, erkundigte er sich und zog eine Augenbraue hoch.
»Ach, nichts«, antwortete sie schnell. »Nichts. Es ist nicht komisch. Es ist nur . . .« Sie prustete los.
David musste ebenfalls lachen. »Schon gut. Du kommst also mit?«
Sie wurde ernst und schien ihre Optionen zu prüfen. Dann legte sie den Kopf schräg. »Habe ich eine Wahl?«, fragte sie, aber es war eigentlich eine Antwort.
»Im Buchladen wird dich niemand suchen. Selbst, wenn sie wissen, wo du wohnst, wir beide sind uns schließlich völlig zufällig über den Weg gelaufen.«
Sie nickte. »Merkwürdig, oder?«
Ja, merkwürdig, allerdings. Es passierten seltsame Dinge und er konnte noch immer nicht ganz fassen, welche Zufälleihn jetzt durch die Nacht stolpern ließen. Wie oft kam es schon vor, dass man auf einem Dach in Kensington einem Mädchen wie ihr über den Weg lief?
Nicht zu vergessen die Tatsache, dass dieses Mädchen behauptet hatte, kein Herz zu haben, bevor sie mit ihm aus einem städtischen Krankenhaus abgehauen und vor zwei definitiv schrägen Typen quer durch die Stadt geflohen war, die noch nicht einmal gescheut hatten, die Notbremse zu ziehen, um sie zu erwischen.
Heaven blieb an einer roten Ampel stehen. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen vor dem Gesicht. »Danke«, sagte sie.
»Tja«, machte David nur. Ihm fiel auf, dass sein Atem viel dichter war als ihrer.
»Ich habe es auch bemerkt«, sagte sie, noch bevor er sie darauf ansprechen konnte. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Er ist nicht gerade warm, mein Atem.«
David hielt vorsichtig die Hand vor ihre Lippen. Wenn sie ausatmete, dann streifte ein kühler Hauch seine Haut und er fröstelte.
»Tut mir leid.« Ihr Flüstern klang erstickt.
Er wippte von einem Fuß auf den nächsten, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Die Ampel wurde grün.
Der Himmel über ihnen war so dunkel wie die Haut des Mädchens. Heaven sah hoch. »Als Kind hatte ich immer Angst vor dieser Dunkelheit«, sagte sie.
»Kann ich verstehen.« Seitdem David zum ersten Mal das finstere Stück am Firmament erblickt hatte, empfand er ähnlich. Wenn man es anschaute, dann war es, als könne man die Leere der ganzen Welt berühren.
»Drüben in Richmond gibt es Sterne, weißt du. Vielleichthat mein Vater das Haus deswegen in diesem Teil der Stadt gekauft. Damit ich all die Sterne sehen kann.« Sie lächelte und verfiel wieder in ein Schweigen.
Sie ließen das Trocadero Centre zur Linken liegen und liefen die Coventry Street entlang. Die Geschäfte waren alle geschlossen. Auf dem Pflasterstein hallten ihre Schritte wie der Takt eines schnellen irischen Liedes.
Irgendwann hielt David es nicht mehr aus.
Er blieb stehen und atmete tief aus. »So funktioniert das nicht«, sagte er und sah sie an. »Wir können doch nicht immer weiterlaufen und so tun, als wäre nichts geschehen.«
»Dann lass uns reden«, sagte sie ruhig.
»Und?«
»Was und?
Du
wolltest reden.«
»Ich weiß.«
»Dann fang auch damit an.«
Er betrachtete die grell blinkende Leuchtreklame über einem Internetcafé, in dessen Neonlicht sich noch jede Menge Leute tummelten und in die Bildschirme starrten. »Heaven.« Er sah ihr in
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