Heaven - Stadt der Feen
Mitternacht. Es fuhren immerhin noch Züge. Und wenn sie Glück hatten, waren sie sogar überfüllt, weil die Nachtzüge der Circle Line und der District Line seltener fuhren und viele späte Nachtschwärmer jetzt auf dem Weg nach Hause waren.
Andererseits war es in der U-Bahn auch warm. Nicht gut, schrie es in ihm, nein, gar nicht gut! Ein Blick auf seine Begleiterin genügte, um ihm zu sagen, dass sie das Gleiche dachte.
»Glaubst du, dass du es schaffst? Wir fahren nur eine Station.«
Sie schluckte, zuckte die Achseln. »Haben wir eine Wahl?«
»Okay. Versuchen wir es.«
Sie rannten die Stufen der Rolltreppe hinab, folgten den Schildern, ignorierten die Ticketautomaten und sprangen über die Geländer. David konnte die schwüle Luft riechen, die von den Gebläsen durch die gewundenen Gänge getrieben wurde. Ihre Schritte machten laute Geräusche, ihrer beider Atem rasselte. Die Plakate an den gekachelten Wänden flogen vorbei, nichts als unwichtige Farbkleckser im Vorbeilaufen.
Ein jäher Windstoß fuhr durch sein Haar und ließ HeavensMantel fliegen. Der Druck kündigte eine nahende U-Bahn an.
Die Verfolger, das spürte David, waren ihnen dicht auf den Fersen, auch wenn er sie noch nicht sehen konnte. Der Mann mit den Handschuhen hatte nicht wie jemand ausgesehen, der leichtfertig aufgab, wenn er sich etwas zum Ziel gesetzt hatte. Wie zum Teufel kamen diese Typen an Ausweise des Gesundheitsamtes? Und warum hatten die Ärzte ihnen geglaubt? David hatte keine Ahnung, in was er da hineingeraten war. Aber er würde Heaven nicht allein lassen, so viel war sicher.
Von weiter unten hörten sie das Rattern des einfahrenden Zuges.
»Das ist unserer!«, keuchte David.
Sie schossen um die nächste Ecke, erreichten eine weitere Rolltreppe. Sie führte zur Circle Line, Richtung Aldgate.
Heaven nickte nur. Das Laufen strengte sie sichtlich an.
Sie nahmen die wenigen Stufen hinunter zum Bahnsteig. Am Schluss musste David Heaven stützen. Sie zitterte wieder. Und war immer noch eiskalt.
Der Zug fuhr gerade ein und bremste ab.
Jetzt sah David ihre Verfolger. Der Mann mit den Handschuhen erschien am oberen Ende der Rolltreppe. Er blieb kurz stehen und schien die Situation einzuschätzen.
Bremsen quietschten.
»Bitte, bleiben Sie doch stehen!« Der Mann mit den Handschuhen sprach mit einer äußerst ruhigen Stimme, keineswegs war er außer Atem oder schrie. Doch die Sätze drangen bis zum Bahnsteig hinunter, laut und deutlich. »Das Mädchen in Ihrer Begleitung ist meine Patientin.«
»Das ist der Typ!«, flüsterte Heaven ängstlich.
David rührte sich nicht.
Der Mann mit den pechschwarzen Handschuhen sah nicht unbedingt wie ein Therapeut aus. Und schon gar nicht wie ein Beamter des Gesundheitsamtes, für den er sich im St. Mary’s ausgegeben hatte. »Sie ist meine Patientin«, sagte der Mann mit den Handschuhen wieder. »Ich will ihr doch nur helfen.«
Der Lumpenmann kam jetzt dazu, schlurfte neben ihn. Er wirkte wie ein Hund an der Seite seines Herrchens. Und noch etwas stimmte nicht mit ihm. Er hinkte und hielt den Kopf auf eine komische Art schräg.
»Er lügt«, wisperte Heaven. »Der Mann mit den Handschuhen, er hatte das Messer.«
Der Zug kam quietschend hinter ihnen zum Stillstand.
»Lauf!« David packte Heaven und zerrte sie etwas unsanft hinter sich her. Sie stöhnte auf, vermutlich war sein Griff zu fest, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie mussten in diesen Zug!
Menschentrauben strömten aus den Waggons. Die letzten Nachtschwärmer, gut gelaunte Party-People, müde Theaterbesucher.
David und Heaven rannten an den Fenstern vorbei und sprangen weiter vorne in einen Wagen, der nicht ganz so überfüllt war wie die anderen. Sie quetschten sich zwischen die Menschen, die in den Gängen standen und sich an den Schlaufen an der Decke festhielten.
Komm schon! David fixierte die Tür. Geh zu!
Die Menschen im Wagen warteten, starrten auf den Bahnsteig, manche unterhielten sich, aber die meisten standen nur schweigend in der Masse.
Los doch!
Aus den Augenwinkeln sah David, wie der Mann mit den Handschuhen in aller Seelenruhe die Rolltreppe herunterkam. Er lief nicht einmal, ließ sich einfach tragen.
Dann war er auf dem Bahnsteig. Mit gemessenen Schritten ging er am Zug entlang.
Verdammt, gingen die Türen nicht zu? Warum fuhr dieser beschissene Zug nicht einfach los?
David zerrte Heaven weiter nach vorn, quälte sich zwischen den mürrischen Fahrgästen hindurch.
Jetzt hatte
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