Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heavy Cross

Heavy Cross

Titel: Heavy Cross Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ditto Beth
Vom Netzwerk:
plötzlich einen Sinn. Er war verständnisvoll und lauschte meinen Geschichten, wie noch nie jemand zuvor dies getan hatte. Freddie war sieben Jahre älter als ich, und wenn man neunzehn Jahre alt ist, ist das ein großer Altersunterschied. Er war illegal in Zügen durch die gesamten Vereinigten Staaten gereist und hatte unterwegs immer wieder sexuelle Abenteuer erlebt. Es machte mir ein bisschen Angst, mit so jemandem zusammen zu sein, aber es war auch total aufregend. Er war einfach perfekt. Ich nutzte die seltsame Kraft, die ich durch ihn sammelte, um den ganzen Ärger im Laden an mir abprallen zu lassen. Oft erschien ich Stunden zu spät zum Dienst, nachdem ich es die ganze Nacht lang mit meinem neuen Freund getrieben hatte.
    Ich hatte immer Verständnis für Freddies Entscheidung, den Übergang nicht medizinisch unterstützen zu lassen, weil ich so viele Parallelen zu meinem Umgang mit dem Dicksein sah. Mein Leben wäre einfacher, wenn ich einen schlankeren Körper hätte. Manche Menschen müssen abnehmen, um ein Gefühl von Sicherheit zu bekommen. Für mich hingegen bedeutet es eine Art von Widerstand gegen die Norm, den Körper zu behalten, den ich von Natur aus habe. Und Freddies Umgang mit seinem Körper – dass er kein Testosteron nimmt oder sich operieren lässt – ist auch eine Art Widerstand. Weshalb sollte er nicht in der Lage sein, seine wirkliche Identität auszuleben, und zwar in dem Körper, der ihm gegeben wurde?
    Indem Freddie sich körperlich nicht veränderte, forderte er alle um sich herum dazu auf, die bescheuerten Vorstellungen darüber, was männlich und was weiblich ist, zu hinterfragen. Und auch ich habe das Gefühl: »Warum darf ich nicht den Körper haben, den ich habe, und trotzdem machen, was ich will?« Wir beide hielten an unseren Körpern fest und überließen es der Welt, sich so zu verändern, dass wir einen Platz in ihr fanden.

NEUNZEHN
    19
    UNGEFÄHR ANDERTHALB JAHRE , nachdem ich Judsonia verlassen hatte, kehrte ich zu Besuch nach Arkansas zurück. Die Tour mit Sleater-Kinney lag erst wenige Monate zurück, und ich hatte mich gut genug eingelebt, um eine kurze Reise unternehmen zu können. Als ich bei Mom zu Hause eintraf, war meine gesamte Familie dort. Sie hatten Transparente gebastelt und im Wohnzimmer aufgehängt, auf denen »Willkommen zu Hause« stand. So etwas hatte es noch nie gegeben – dass jemand weggefahren und wiedergekommen war. Alle fanden es wahnsinnig aufregend, dass eine von ihnen in die Welt hinausgezogen war. Sie wollten meine Geschichten hören und überhäuften mich mit Aufmerksamkeit, Fragen, Umarmungen und Gelächter.
    Es war irre zu sehen, dass alle älter geworden waren und Kinder bekommen hatten, und auch die Kinder waren in meiner Abwesenheit enorm gewachsen. Die meisten Eltern wollen ihren Kindern möglichst nahe bleiben, damit sie nicht so viel verpassen. Bei meinen Geschwistern klappte das sehr gut, was bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, was für eine Kindheit wir hatten. Die meisten in meiner Familie, die so alt sind wie ich, haben nicht viele Kinder, was gemessen an den Verhältnissen in Arkansas ziemlich radikal ist. Einer meiner Brüder hat gar keine Kinder, die anderen haben jeweils zwei, meine Schwester hat nur eins. Ich glaube, trotz des ganzen Durcheinanders, das wir anrichteten, hatte meine Familie immer etwas Besonderes. Mich überrascht es nicht, dass es meinen Geschwistern gelungen ist, den Teufelskreis aus Missbrauch und Verzweiflung zu durchbrechen. Ich weiß nicht, wem oder was wir das zu verdanken haben – vielleicht wurden sie von Mom verhext. Ich kenne viele Familien, in denen Missbrauch zum Alltag gehört und die diesem Schicksal niemals entfliehen. Ich bin so stolz auf meine Geschwister, dass sie es trotz all der Entbehrungen und Opfer geschafft haben, dorthin zu kommen, wo sie heute sind. Und bei meinem Besuch merkte ich, dass sie auch stolz auf mich waren.
    Auch Arkansas selbst hatte sich in dieser kurzen Zeit verändert – so wie es in ganz Amerika Veränderungen gegeben hatte, selbst in den beschissensten, gottverlassensten Gegenden. Es gab dort jetzt einen Starbucks, wobei ich mir meinen Kaffee trotzdem noch bei McDonald’s holte. So lange war McDonald’s der einzige Ort gewesen, an dem man zuverlässig einen Kaffee bekam, dass ich die Angewohnheit einfach nicht abstellen konnte.

Weitere Kostenlose Bücher