Heavy Cross
Inzwischen hatten sie sogar Eiskaffee! Meine Cousins konnten es nicht fassen, dass ich freiwillig kalten Kaffee trank. Das machte sie richtig fertig. Solche Kleinigkeiten lösten einen riesigen Kulturschock aus. Ich hatte mir nichts dabei gedacht und einfach einen Eiskaffee bestellt, aber als ich merkte, wie alle anderen um mich herum darauf reagierten, begriff ich, dass es sehr viel zu bedeuten hatte. Ich war weg gewesen, hatte viel erlebt und einiges ausprobiert und war dadurch eine andere geworden.
Alles in allem ist meine Familie jedoch wahnsinnig cool. Trotz all der Geschehnisse, die ungestraft blieben oder nicht zur Kenntnis genommen wurden, weià ich, welches Glück ich habe, diese Menschen auf meiner Seite zu wissen. Sie sind für mich einfach die wichtigsten Menschen auf der Welt. Meine Geschwister und ich wurden immer wieder aufgefordert, uns vorzustellen, wie es anderen Leuten ergeht. Eine sehr einfache und überzeugende Lektion. Man entwickelt Mitgefühl und lernt, sich dem Leben gegenüber zu öffnen, anstatt sich davor zu verschlieÃen. Als ich noch ein Kind war, lief im Fernsehen ein Bericht über Schwule auf der Highschool. »Stell dir mal vor, wie das für den Jungen sein muss«, sagte meine Mom damals zu mir. Das ist bis heute bei mir hängengeblieben.
Als die Sache mit Freddie ernster wurde, wollte ich ihn mit nach Arkansas nehmen, um ihm die Menschen und Orte zu zeigen, die zu meiner Vergangenheit gehören. Ich vertraute ihm, und ich vertraute auch meiner Familie, dass sie ihn gut behandeln und mich nicht im Stich lassen würde. Alle respektieren Freddie so, wie er ist. Ich weià nicht, ob sie die Feinheiten seiner geschlechterübergreifenden Identität verstehen, aber sie wissen, wie man jemandem respektvoll begegnet, was Würde ist und wie man sich gut benimmt. Alles andere als begeistert waren meine Geschwister hingegen, als sie in der Arkansas Gazette lesen mussten, ich würde nicht mehr an Gott glauben. Dafür hatten sie keinerlei Verständnis, und es löste einen Riesenskandal aus. Nur eine Sünde ist in meiner Familie wahrhaft unverzeihlich: die Sünde, Gott zu verleugnen. Sie machten sich groÃe Sorgen um mein Seelenheil, was eigentlich ganz schmeichelhaft war. Es ist schön, von so vielen Menschen so sehr geliebt zu werden, dass sie sich Sorgen um mein Leben nach dem Tod machen. Mir macht es nichts aus, dass meine Familie mich für eine Sünderin hält, solange ich deshalb nicht wie ein Stück ScheiÃe behandelt werde.
ZWANZIG
20
NACHDEM MOVEMENT ERSCHIENEN WAR, ging es nach Schottland. Wir begleiteten die Singer-Songwriterin Sarah Dougher und eine Band namens The Lollies. Sarah hatte auÃerdem zusammen mit Corin Tucker von Sleater-Kinney noch eine Band, Cadallaca, und als Solokünstlerin schrieb sie wunderschöne, folkige Songs auf der Gitarre. Sie tourte mit ihrer neuen CD, The Bluff .
Die Lollies waren eine britische Girl-Band, die im NME eine Auszeichnung als beste britische Newcomerband erhalten hatten. Sie waren punkig, standen auf Garagenrock aus den Sechzigern und hatten sich auf ähnliche Weise gegründet wie Gossip, weshalb wir uns groÃartig verstanden. Die Tour war wahnsinnig lustig. In den USA galt ich immer noch als minderjährig, aber in Europa nicht! Ich trank und qualmte bis zur Besinnungslosigkeit. Damals konnte ich Komplettabstürze noch locker wegstecken. So etwas hält man nicht lange durch, aber ich war froh, meine Widerstandsfähigkeit auf jener Tour voll ausnutzen zu können.
Ich war zum ersten Mal in GroÃbritannien. Wir fuhren nach Glasgow, spielten auf dem schottischen Ladyfest und gaben noch ein paar Konzerte in allen möglichen Kleinstädten. Am besten gefiel mir Hull, eine kleine Arbeiterstadt in Yorkshire. Unser Auftritt dort ist mir bis heute als der schönste in ganz GroÃbritannien in Erinnerung geblieben. Das Publikum bestand nicht wie sonst aus jungen Leuten, sondern aus Arbeitern und älteren Lesben. Der Abend endete damit, dass betrunkene Mechaniker zusammen mit uns die Songs herausschrien: » TAKE BACK, TAKE BACK THE REVOLUTION! «
Je länger ich sang und je mehr Platten wir aufnahmen, desto mehr ging ich dazu über, meine wahre Stimme einzusetzen. Ich wusste nie, in welcher Tonlage ich gerade sang. Erst nach vielen Alben entwickelte ich eine Vorstellung davon. In der Schule hatte man mir nicht unbedingt Mut gemacht. Meine Mom war
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