Hebamme von Sylt
bedacht, selber kein einziges zu verursachen. Zum Glück schien sich der Mann, dessen Umrisse er nur schwach erkennen konnte, sehr sicher zu sein. Er dachte nicht an einen Verfolger, seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf das, was er in der Zelle vorfinden würde. Auf Geesche! Sie sollte nichts von seinem Eindringen bemerken, sollte ruhig weiterschlafen, keinen Laut von sich geben, der in den Hütten der Strandgutsammler gehört werden konnte.
Was hatte der Kerl vor? Die Gedanken jagten durch Marinus’ Kopf. Wer war dieser Mann? Wem war Geesche so gefährlich geworden, dass sie unschädlich gemacht werden sollte? Oder war es jemand, der Rache üben wollte? Ein Arbeiter der Inselbahn, der sich durch Geesche um seinen Lohn gebracht sah?
Nun schwang die Tür zu Geesches Zelle auf, noch immer hatte der Mann sich kein einziges Mal umgedreht. Er machte einen Schritt in die Zelle hinein, blieb dann stehen und wartete ab. Kein Geräusch drang zu Marinus. Nicht das Knarren der Pritsche, kein erschrockenes Stöhnen, kein unterdrückter Schrei. Es blieb still, totenstill. Marinus lauschte auf Geesches Atmen, aber nicht einmal den konnte er hören.
Nun bewegte sich die dunkle Gestalt in die Zelle hinein, Marinus huschte ihr mit lautlosen Schritten nach. Fünf, sechs Schritte, mehr brauchte er nicht, um ans Ende des Ganges zu kommen. Vorsichtig spähte er um die geöffnete Tür herum, konnte die Pritsche erkennen, auf der jemand lag, ohne sich zu rühren. Geesche in tiefem Schlaf! Vor der hellen Wand der Zellewar der Umriss des Mannes nun genauer zu erkennen. Ein großer, kräftiger Kerl, dunkel gekleidet, mit einer schwarzen Mütze auf dem Kopf. Von seinem Gesicht war nichts zu erkennen.
Marinus sah, dass er zu seinem Gürtel griff und etwas hervorzog, was leicht zu erkennen war. Ein kurzes Blinken nur, ein winziges Aufblitzen, und Marinus wusste, dass der Mann ein Messer gezückt hatte.
Im selben Augenblick hatten sich Marinus’ sämtliche Fragen in einer einzigen Antwort gebündelt. Nicht mehr, wer es war und warum er es tat, war wichtig, nur noch, es zu verhindern. Mit einem gewaltigen Satz sprang er den Gegner an, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Messer gerichtet, das der Kerl gerade in diesem Moment hob, um es auf Geesche hinabfahren zu lassen.
Der Mann war von dem Angriff derart überrascht, dass er erschrocken zurücktaumelte, gegen die Wand prallte, und das Messer fallen ließ. Marinus griff nach seinen Schultern, presste sie gegen die Wand und stieß ihm sein rechtes Knie in den Unterleib. Mit einem klagenden Laut krümmte sich der Mann zusammen und war für Augenblicke unfähig zu reagieren.
Geesche war von ihrem Lager hochgefahren. Ohne zu sehen und auch nur zu ahnen, was sie erkennen und sich erklären konnte, griff Marinus nach ihrem Arm und zischte ihr zu: »Komm! Raus hier! Schnell!«
Dass sie seine Stimme erkannte, wurde ihm sofort klar. Und für einen winzigen, aber umso eindringlicheren Moment durchzuckte ihn das Glück darüber, dass sie ihm noch immer vertraute. Sie war schon an der Tür, als der Mann sich von seinem Schmerz erholt hatte und auf Marinus losging. Er war stärker und das Kämpfen gewöhnt, das wurde Marinus schnell klar. Er begriff, dass er ihn nur hatte überwältigen können, weil die Überraschung auf seiner Seite gewesen war. Nun ging er mit den Fäusten auf Marinus los, als hätte es den Stoß in denUnterleib nie gegeben. Und die Fäuste zielten gnadenlos auf alles, was einen Mann schnell kampfunfähig machen konnte, die Augen, die Nase, den Kiefer. Marinus hatte alle Mühe, sich zu verteidigen und zu schützen. An einen Gegenangriff war gar nicht zu denken.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Geesche aus der Zelle huschte, und die Enttäuschung machte ihn derart wütend, dass er auf seine Deckung verzichtete und erst mit der Rechten, dann mit der Linken auf die Augenbrauen seines Gegners zielte. Geesche ließ ihn allein? Sie brachte sich selbst in Sicherheit und überließ ihn der Gefahr?
Sein Gegner war ein zweites Mal überrascht. Diesmal von Marinus’ kalter Wut. Er sah, dass die Augenbraue des Mannes aufplatzte, dass Blut herausschoss und ihm die Sicht nahm. Mit einer heftigen Bewegung wischte der Kerl sich die Augen frei, aber diese kurze Unterbrechung des Angriffs nutzte Marinus wiederum. Diesmal für einen Schlag in den Magen.
Mit einem grimmigen Knurren krümmte sich der Mann zusammen … in diesem Moment sah Marinus, dass Geesche zurückkam. Sie hielt etwas in
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