Hebamme von Sylt
der Hand, was er nicht erkennen konnte. Erst als sie es mit beiden Händen erhob und auf den Kopf des Angreifers niederfahren ließ, wurde ihm klar, dass es eine Flasche war, die sie anscheinend bei dem geknebelten Nermin gefunden hatte. Der Geruch von billigem Fusel breitete sich aus. Mit einem hässlichen Röcheln brach der Mann zusammen und fiel vornüber. Direkt vor Marinus’ Füße.
Erschrocken machte er einen Schritt zurück und starrte auf das Blut, das aus einer Wunde am Hinterkopf quoll.
»Weg«, hörte er Geesche stammeln. »Wir müssen weg.« Sie griff nach seiner Hand und versuchte, ihn mit sich zu ziehen.
»Lass uns erst nachsehen, wer er ist!« Marinus wollte sich zu dem Mann hinabbeugen, aber gerade in diesem Moment regte er sich und machte den Versuch, nach Marinus’ Fußgelenken zu greifen.
Geesche schrie auf und stieß Marinus weg. Weg von der Gefahr! Weg in Richtung Tür! »Lass uns verschwinden!«
Und diesmal war Marinus einverstanden. Doch schon, als sie in den Dünen angekommen waren, bereute er die überstürzte Flucht. Er hätte gern gewusst, ob es wirklich ein Arbeiter der Inselbahn gewesen war, der Geesche zu töten versucht hatte. Und noch etwas bereute er schwer. Dass er nicht daran gedacht hatte, die Zellentür hinter sich zu verschließen. Wenn der Kerl rechtzeitig zur Besinnung kam, würde ihm die Flucht gelingen.
Ebbo war nicht mit ihr ins Haus gegangen. Hanna sah ihm nach, wie er mit gesenktem Kopf weiterlief, die Füße besonders nachdrücklich in den Sand setzte, die Hände in die Taschen seiner weiten Hose bohrte, die Ellbogen trotzig nach außen kehrte. Schon nach wenigen Metern wurde er von der Dunkelheit verschluckt.
Er glaubte ihr nicht! Misstrauisch hatte er sie angesehen, während sie ihm verriet, was sie von dem Koch der Königin erfahren hatte. Davon wollte er nichts hören. Und er wollte Hanna nicht sehen, die etwas derart Ungeheuerliches zu berichten hatte, dass Ebbo es nicht für wahr halten wollte. Aber daran, dass er die Chance nutzen würde, sich mit der Comtesse in Geesches Haus zu treffen, glaubte Hanna dennoch ganz fest. Dass Elisa von Zederlitz es ebenso wollte, dessen war Hanna sich auch ganz sicher. Und dass die beiden dafür ihre Hilfe brauchten, war ebenso gewiss. Ebbo und Elisa würden ihre Liebe auskosten wollen bis zum letzten Augenblick. Jetzt erst recht!
Dabei hatte Hanna die volle Wahrheit gesagt. Der Koch der Königin war ein geschwätziger Kerl, der sich freute, wenn er jemanden vor sich hatte, der seine Erzählungen noch nicht kannte, was ihm vermutlich nicht häufig passierte, da er schon lange am rumänischen Hof arbeitete.
Die anderen Dienstmädchen verdrückten sich, wenn er begannmit »Ihr hättest mal die Kammerzofen der Königin in Bukarest sehen sollen, da könnte ich euch Geschichten erzählen …«
Hanna aber hatte sich gern in seiner Nähe zu schaffen gemacht und ihm zugehört, wenn er von einer Welt erzählte, von der sie nichts wusste und nie etwas gesehen hatte. Und der Koch, der auf den Namen Eugen hörte, hatte schnell erkannt, dass er bei Hanna auf offene Ohren stieß. Während er für Königin Elisabeth eine rumänische Polenta kochte und die Krautwickerl für sie vorbereitete, die sie besonders gern aß, berichtete er von seiner Kindheit und Jugend in Wied, am Fuß der Burg, auf der die Königin aufgewachsen war, von seiner Ausbildung bei der Fürstenfamilie zu Wied, von den Jahren, in denen er als Smutje zur See gefahren war, und der folgenden Zeit, die er in Lübeck verbracht hatte, um dort die Marzipanherstellung zu erlernen. Danach war er bei den Eltern der damaligen Prinzessin Elisabeth zu Wied in Dienst gegangen und hatte angeblich keine Sekunde gezögert, als sie mit dem Wunsch an ihn herangetreten war, ihr nach Bukarest zu folgen. Und dass er mit Freuden die rumänische Küche erlernte, erwähnte er gleich mehrmals und setzte jedes Mal hinzu, dass er schon bald sämtliche Leibköche der rumänischen Adeligen übertroffen habe. »Ich war der einzige Koch weit und breit, der eine rumänische Moussaka genauso gut kochen konnte wie einen rheinischen Sauerbraten.«
Er hatte Hanna angestrahlt, wie sie selten angestrahlt wurde, und ihn schien ihre Behinderung nicht zu kümmern, was ihr ebenso selten geschah. Hanna war von da an mit jeder noch so groben Küchenarbeit einverstanden, obwohl sie kurz vorher noch schwer gekränkt gewesen war, als niemand ihr zutrauen wollte, bei Tisch zu bedienen.
»König Carol dankt
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