Hebamme von Sylt
machen lässt! Diese Gesetzlosen sind wie die Pest!«
Dr. Nissen war fassungslos. »Aber das unschuldige Kind!«
Doch die Duldsamkeit kehrte nicht in Fredas Gesicht zurück. »Wenn sie auf Sylt leben wollen, Herr Doktor, sollten Sie an Ihren guten Ruf denken. Sie haben dem Flittchen eines Strandräubers geholfen. Wenn sich das rumspricht …«
»Also gut«, unterbrach Dr. Nissen sie hastig. »Sorg dafür, dass sie verschwunden ist, wenn ich zurückkomme. Aber … gib ihr wenigstens was zu essen mit.«
»Die Vorräte werden gebraucht, um den alten Nermin zubestechen. Sonst bekommt Geesche im Gefängnis nichts zu essen.«
»Gib ihr trotzdem was mit. Ich werde es bezahlen.« Er ging zur Tür, ohne Freda noch einmal anzusehen. »Später, wenn ich zurück bin.«
Als er aus dem Haus trat, stieg die Sonne schon ihrem Zenit entgegen, die Wärme des Sommers saugte bereits die Kühle auf, die vom Meer herüberkam. Dr. Nissen schob Zeige- und Mittelfinger hinter seinen hohen Kragen und zog ihn so weit wie möglich von der Haut weg. Er schwitzte! Schwitzen war unfein und ordinär. Arme Leute schwitzten bei der Arbeit, sie rochen nach Schweiß und trugen Kleidung mit Schweißrändern. Wenn er verschwitzt bei Graf von Zederlitz ankam, würde er sich von vornherein auf die Stufe hinabbegeben, auf die das Schicksal ihn heute zwang. Nein, wenigstens wollte er es Graf Arndt so schwer wie möglich machen, ihn seine Verachtung spüren zu lassen. Der Graf sollte bedauern, dass ein so vornehmer Herr wie Dr. Leonard Nissen zu einer so ehrenrührigen Tat imstande war.
Er ging langsam, damit die Bewegung ihn nicht zusätzlich erhitzte, und fächelte sich mit einem Taschentuch Luft zu. Dass Dr. Pollacsek ihm entgegenkam, kaum dass er den Kirchenweg erreicht hatte, gefiel ihm nicht sonderlich. Er wollte nicht aufgehalten werden, sondern die unangenehme Sache hinter sich bringen.
Dr. Pollacseks erbitterte Miene war schon von weitem zu erkennen. »Ich wollte gerade zu Ihnen kommen!«
Nissen betrachtete ihn besorgt. »Ihre Magenbeschwerden?«
Aber Pollacsek winkte ab. »Gestern ging es mir besser, aber heute Morgen, als ich hörte, was letzte Nacht passiert ist …«
Leonard Nissen griff nach seinem Arm. »Was ist los?«
Pollacsek schöpfte tief Luft, ehe er antworten konnte: »Die Hebamme ist aus dem Gefängnis ausgebrochen.«
Leonard Nissen schwankte. »Was?«
»Sie hat den alten Nermin umgebracht. Heute Morgen wurde er tot aufgefunden. Gefesselt und geknebelt.«
»Aber … das ist unmöglich!«
»Der Inselvogt hat in der Zelle einen großen Blutfleck gefunden. Von Nermin kann das Blut nicht stammen. Er war äußerlich unverletzt. Gestorben ist er anscheinend an Angst und Schrecken.«
Dr. Nissen war froh, als das Schwanken aufhörte. »Wie soll Geesche das geschafft haben? Den Wärter überwältigen …«
»Es muss einen Kampf zwischen den beiden gegeben haben. Anscheinend hat sie sich dabei verletzt.«
»Sie meinen, das Blut stammt von ihr?«
»Von wem sonst?«
Dr. Nissen dachte angestrengt nach. »Vielleicht hatte sie einen Helfer?«
Pollacsek griff sich prompt an den Magen. »Für diese Frau hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt. Eine so aufrechte, geradlinige, ehrliche Person! Deswegen konnte ich zunächst nicht glauben, dass sie die Lohngelder gestohlen hat.«
»Aber jetzt glauben Sie es?«
Pollacsek stöhnte. »Jemandem, der einen alten Mann umbringt, kann man alles zutrauen. Wäre sie unschuldig, hätte sie es nicht nötig gehabt, sich so ihre Freiheit zurückzuholen.« Er beugte sich näher zu Dr. Nissen heran, als gäbe es jemanden, der sie belauschen könnte. »Haben Sie mir nicht gesagt, Geesche Jensen wollte weg von Sylt?«
»Wegen Marinus Rodenberg.«
»Glauben Sie das immer noch? Ich glaube jetzt was anderes. Sie wollte weg, um ihre Beute auf dem Festland in Sicherheit zu bringen. Dort, wo sie das Geld ausgeben kann, ohne dass sich jemand fragt, woher sie es hat.« Sein Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an. »Ich habe Marinus Rodenberg ganz umsonst entlassen! Meinen besten Mann! Weil ich so fest an Geesche Jensen geglaubt habe!« Deprimiert schüttelte erden Kopf. »Ich kann nur hoffen, dass Sie trotzdem auf Sylt bleiben, mein lieber Nissen. Sicherlich können Sie das Haus der Hebamme günstig mieten.« Er stieß ein Lachen aus, das sich anhörte wie das Meckern einer alten Ziege. »Oder billig kaufen! Oder noch besser: einfach drin wohnen und praktizieren! Ich werde dafür sorgen, dass der
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