Hebamme von Sylt
geben. Aber niemals wieder würde er für die Sylter Inselbahn arbeiten. Anscheinend ging es ihm so wie Andrees: Die Inselbahn brachte ihm Unglück.
Die Sonne war erbarmungslos geworden, sie hatte auf ihrer Haut gebrannt, gleißend auf dem Weiß der Dünen gestanden, in ihren Augen geschmerzt, auf ihrem Nacken, auf den Armen, im Gesicht. Obwohl Geesche das Arbeiten im Freien gewöhnt war, hatte sie unter der Sonne gelitten. Sie hatte ihren großen Strohhut vermisst, den sie an heißen Sommertagen aufsetzte, und die Bewegung, die die Sonne erträglicher machte. Schließlich hatte sie aufgegeben und sich in den Schutz der Hütte zurückgezogen, als sie verspürte, wie benommen sie die Sonne machte, wie schläfrig und unaufmerksam. Es war wohl doch besser, in der Hütte auf Marinus zu warten. Sie hatte sich hingelegt und zur Decke gestarrt. Dann war sie anscheinend eingeschlafen.
Nun fuhr sie hoch, weil sie von einem Geräusch geweckt worden war. Marinus? Die Tür war noch geschlossen, es war still um die Hütte herum, kein menschlicher Laut zu hören. Hatte sie sich getäuscht? Hatte der Wind etwas bewegt oder eine Möwe sich in der Nähe niedergelassen? Sie lauschte angestrengt, starrte die Türklinke an, als wollte sie sie zwingen, sichzu bewegen … da sah sie den Schatten vor dem Fenster. Marinus! Endlich war er zurück!
Geesche sprang auf, war mit einem Satz an der Tür, noch ehe sie in ihre Holzschuhe gestiegen war, streifte mit der linken Hand den Rock über die Beine, während sie mit der rechten die Tür aufstieß.
Ein wütender Schrei fuhr ihr entgegen. Die Tür war gegen einen Widerstand geprallt, mit einem hässlichen Geräusch, das so widerwärtig war, weil Geesche sofort wusste, dass es auf einem menschlichen Schädel entstanden war. Erschrocken sprang sie aus der Hütte, um die geöffnete Tür herum, beide Arme vorgereckt, voller Schuldgefühle, voller Mitleid, voller Bereitschaft, wiedergutzumachen, was sie angerichtet hatte. Sie wollte Marinus in ihre Arme ziehen, an ihre Brust drücken, seinen Kopf streicheln und ihm ins Haar murmeln, wie leid es ihr tat, wie ungeschickt sie gewesen war, wie schrecklich tollpatschig und plump.
Aber der Mann, der vor ihr stand, seine Hand an die Stirn gepresst, war nicht Marinus. Wer er war, erkannte sie sofort. Es war sein eiskalter Blick, der sie erinnerte, die mörderische Wut, die in seinen Augen stand, die grobe Kraft, die von ihm ausging, das Unbarmherzige, das er mit seinen Fäusten hielt, als könnte er es sonst verlieren. Selbst die Hand, die er an die schmerzende Stirn hielt, war zur Faust geballt. Der Kopfverband, den er trug, färbte sich an der Schläfe allmählich rot. Nun stellte sie sogar fest, dass sie seinen Namen kannte. Hauke Bendix, der vor Jahren zu den Strandräubern gegangen war, weil er aus dem armseligen Leben herauswollte, mit dem sein Bruder zufrieden war.
»Du verdammtes Miststück!«, stieß er hervor und griff nach Geesche.
Beinahe wäre sie ins Haus zurückgewichen. Aber gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass das ihr Verderben gewesen wäre. In den vier Wänden der Hütte wäre sie ihm ausgeliefertgewesen, ohne Möglichkeit zur Flucht, ohne die Chance, dass jemand ihre Hilfeschreie hörte, der bereit war, ihr beizustehen.
Mit einer schnellen Bewegung entzog sie sich seinen Händen, indem sie zur Seite auswich, um ihm in Richtung Süden zu entkommen. Eigentlich rechnete sie damit, schon während der nächsten Meter gepackt und zu Boden gerungen zu werden, aber sie spürte, ohne sich umzublicken, dass sie schon bald an Boden gewann. Hauke war noch hinter ihr, sie hörte sein Stöhnen, sein Keuchen, schien sogar den aufstiebenden Sand hören zu können, aber all das wurde schwächer, je weiter sie lief. Ja, sie baute ihren Vorsprung aus! Als sie sich entschloss, sich Richtung Meer zu wenden, wagte sie einen Blick nach hinten und fiel prompt in ein gemächlicheres Tempo. Hauke Bendix schwankte, griff sich an den Kopf, hatte offensichtlich Schmerzen und wirkte benommen. Nun blieb er sogar stehen und schrie gegen den Wind an. Verschiedene Namen waren es, die Geesche verstand, er rief also nach seinen Kumpanen, die für ihn die Verfolgung aufnehmen sollten.
Hastig änderte Geesche ihre Pläne. Wenn sich mehrere Strandräuber an ihre Fersen hefteten, war sie am Wasser nicht sicher, wo sie auch auf große Entfernung gesehen werden konnte und wo es keine Verstecke gab. Also setzte sie ihre Flucht gen Osten fort, hinein in die
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