Hebamme von Sylt
Dünentäler, wo sich vielleicht etwas finden ließ, hinter dem sie sich verbergen konnte. Der Strandhafer, das Dünengras, eine hohe Sandwehe.
Geesche lief und lief, ehe sie sich zum ersten Mal wieder umdrehte. Einen weiten Bereich der Dünenlandschaft konnte sie überblicken, aber niemand war zu sehen. Sie war allein. Die Erleichterung war so groß, dass sie sich eine Ruhepause gönnte und in den Sand sinken ließ. Aber auf die Erleichterung folgte schnell die nächste Angst. Was sollte nun geschehen? Wie konnte Marinus sie finden? Sie zog den Rock so weit nach vorn, dass sie die Füße darauf stellen konnte, die auf dem heißen Sand brannten. Was sollte sie tun? Wohin konntesie sich wenden? Welchen Weg würde sie barfuß zurücklegen können?
Geesche erhob sich schwerfällig und grub die Füße in den Sand, bis sie auf eine kühlere Schicht stießen, die das Stehen erträglicher machte. Sie fühlte sich schwach und ausgelaugt. Die Tage im Gefängnis, in denen sie kaum etwas zu essen und auch nur wenig zu trinken bekommen hatte, forderten nun ihren Tribut. Sie war nicht bei Kräften, sie durfte sich nicht zu viel zumuten.
Mühsam setzte sie einen Fuß vor den nächsten und verbiss sich den Schmerz, den der brennende Sand unter ihren Füßen verursachte. Sie würde Richtung Westerland gehen. Vielleicht kam ihr Marinus entgegen, dann war sie gerettet. Und dann war auch er gerettet, wenn sie ihn warnen konnte.
»Freda«, flüsterte sie und wusste, dass Freda ihre zweite Rettung sein konnte. Nicht nur auf Marinus konnte sie sich verlassen, sondern auch auf Freda. Ihre Freundin! Freda würde ihr helfen.
Marinus wurde von einem Gefühl beschlichen, das er Angst nennen konnte, aber nicht wollte. Er fragte sich, was es war, das dieses Gefühl in ihm hervorrief, und kam dann zu der Überzeugung, dass es die Stille sein musste, die über der Hütte lag und sie fest umschloss. Während er auf sie zuging, redete er sich ein, dass alles so war, wie er es erwarten durfte, dass Geesche in der Hütte auf ihn wartete, damit niemand sie sah, dass sie sich so unauffällig verhielt, dass jeder glauben musste, die Hütte wäre leer … trotzdem wurde er das Gefühl nicht los. Und kurz bevor er die Hütte erreichte, gelang es ihm, das ungute Gefühl beim richtigen Namen zu nennen. Ja, er hatte Angst. Etwas warnte ihn, aber er wusste nicht, was.
All seine Sinne waren gespannt, als er nur noch wenige Meter von der Hütte entfernt war. Er wartete jeden Moment auf einen Angriff, ohne sich vorstellen zu können, wer der Angreifersein konnte. Ein Strandräuber, der ihn ausplündern, der Inselvogt, der ihn verhaften wollte? Oder der Arbeiter der Inselbahn, der Rache suchte?
Marinus spürte, dass er den Kopf schüttelte, um diese schrecklichen Gedanken zu vertreiben. Aber es gelang ihm nicht. Warum sah Geesche ihn nicht vom Fenster aus? Warum lief sie ihm nicht entgegen? Wieder schüttelte er den Kopf. Natürlich, weil sie eingeschlafen war. Sie war erschöpft von den Tagen im Gefängnis, die sie ausgelaugt und müde gemacht hatten. Nun versuchte er sogar zu lächeln. Und natürlich war sie müde von der vergangenen Nacht, in der sie nur wenig geschlafen hatte.
Er griff gerade nach der Türklinke und kämpfte die Sorge nieder, dass er Geesche hinter der Tür nicht vorfinden würde … da kam der Angriff, vor dem er sich gefürchtet hatte. Der Mann musste hinter der Hütte auf ihn gewartet haben. Schrill, wie von einer zum Zerreißen gespannten Saite, fuhr es durch seinen Kopf, dass dieser Kerl nur deshalb nach ihm Ausschau halten konnte, weil er Geesche bereits überwältigt hatte, weil er wusste, dass dort, wo sie war, auch Marinus bald auftauchen würde.
Mit einer geschmeidigen Bewegung entglitt er dem Angriff, der viel zu brutal war, um sorgfältig auf ein Ziel gerichtet zu sein. Der Mann war einfach auf ihn losgestürmt, in der sicheren Erwartung, ihn zu töten, ihn zumindest zu Boden zu werfen. Sein Anblick war furchtbar. Das Gesicht verzerrt, die Augen zu Schlitzen verengt, aus denen die kalte Wut sprang, der Kopfverband blutbesudelt. Dass er den Mann vor sich hatte, der in der vergangenen Nacht versucht hatte, Geesche umzubringen, daran zweifelte Marinus keinen Augenblick. Dies war der Kerl, der auch den alten Nermin auf dem Gewissen hatte! Eine Tat, für die Geesche büßen sollte! Und dieser Mann war kein Arbeiter der Inselbahn!
Marinus versuchte es mit einem Gegenschlag, aber er merkteschnell, dass er dem Kerl unterlegen
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